Heten, Cissys, Stinos - Der Mittelpunkt der Welt

Wir kennen sie wohl alle, die berühmte Frage danach, was denn die Eltern zum Coming Out gesagt haben, wie sie mit unserem Queersein umgehen und ob sie eine_n trotzdem weiterhin lieben. Analog tauchen auch gerne mal Fragen zur Schule, dem Arbeitsplatz oder dem Freundeskreis auf. Was einfach als eine interessierte Frage von Menschen gemeint sein kann, die direkt oder indirekt mit dem Thema in Bezug stehen, offenbart bei näherem Hinsehen ein Machtverhältnis, das ich in diesem Blogpost kritisch beleuchten möchte.

Die Frage, die mir hier unter den Nägeln brennt ist, was mir an den obigen Fragen problematisch erscheint. Um meine Ausführungen besser zu verdeutlichen, möchte ich zunächst auf den Begriff 'Hetero-Referenz' eingehen.

Was also verstehe ich in diesem Kontext unter Hetero-Referenz?

Der Begriff beschreibt die Bezugnahme auf und das Messen an heteronormative/n Bewertungsstandards. Bestimmte Wesensmerkmale wie Aussehen, Sprechweise, Verhalten, Sexualität etc. einer Person werden hierbei versucht, in ein heteronormatives Wahrnehmungsraster zu pressen. Wer zu stark von den Standards abweicht, wird - wenn es sein muss - auch mithilfe von Spott oder Beleidigungen zurück auf die Spur gebracht. Die Hetero-Referenz stellt dabei die Grundlage für das Markieren und Exponieren queerer Menschen dar. Das Bewerten nach diesen Standards erfolgt permanent und beeinflusst uns in unserer Selbst- wie auch Fremdwahrnehmung von Geburt an bis in den Tod. Die Auswirkungen für Abweichler_innen reichen von internalisierter Queerfeindlichkeit und Minderwertigkeitskomplexen über Selbsthass bis hin zu selbstverletzendem Verhalten.

Warum queeren Menschen die Meinung der Mehrheit nicht egal sein kann...

Kurz gesagt, das Messen an heteronormativen Bewertungsstandards ist keine gleichwertige Gegenüberstellung von unterschiedlichen Selbstentwürfen oder gar 'Meinungen', sondern unterliegt vielmehr einem Hierarchiegefälle. Das bedeutet, dass queere Menschen Zeit ihres Lebens der 'Meinung' bzw. dem Wohlwollen der Mehrheitsgesellschaft ausgeliefert sind, was teils massive reale Konsequenzen mit sich bringt.

Zum einen ist hier die gesellschaftliche Dimension zu nennen: Seien es öffentliche Diskussionen, in denen ergebnisoffen über die Grundrechte queerer Menschen debattiert wird, Petitionen, die die Sensibilisierung beim Thema Gewalt zu verhindern suchen, oder der Unwille, queerfeindliche Hassrede als solche zu benennen und zu ächten.

Und dann ist da noch die rechtliche Ebene: Der Gesetzgeber, der darüber entscheidet, ob gleichgeschlechtlichen Paaren dieselben Privilegien zustehen sollten, wie gemischt-geschlechtlichen. Der Gesetzgeber, der darüber berät, ob der Schutz queerer Menschen wirklich explizit im Grundgesetz verankert werden soll. Der Gesetzgeber, der sich noch immer nicht dazu durchringen kann, intersexuelle Menschen mithilfe von Gesetzen vor Zwangsbehandlung zu schützen. Der Gesetzgeber, der sich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht dazu aufraffen kann, das Transsexuellengesetz zu nivellieren, obwohl es durchlöchert ist, wie ein Schweizer Käse.

Fakt ist, die Meinung der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft muss queere Menschen leider interessieren, während es umgekehrt keine Rolle spielt. Menschen, die den heteronormativen Standards entsprechen, erleben nun einmal nicht dieselbe Form von Fremdbestimmung, nicht dieselbe Form des Ausgeliefertseins, nicht dieselbe Form des Sich-Rechtfertigens, um in den Schutz des Grundgesetzes zu kommen oder auch nur dieselben Rechte zu erhalten.

Was ich mit diesem kleinen Exkurs versucht habe zu verdeutlichen ist, dass die Meinung der Mehrheitsgesellschaft das Leben queerer Menschen zu stark beeinflusst, als dass diese sich ein 'Fuck you, ich mach was ich will!' oder auch nur ein 'Was tangiert mich die Meinung der Anderen?' wirklich leisten können. Wir wissen oftmals nur zu gut, wie sehr uns diese Meinung terrorisiert tangiert.

'Macht es deinen Eltern denn nichts aus, wenn du als Junge mit Puppen spielst?'

Vor diesem Hintergrund wird vielleicht klar, weshalb ich die Hetero-Referenz bei den zu Anfang genannten Fragen ebenfalls problematisch finde. Sie stößt uns quasi - bewusst oder unbewusst - mit dem Gesicht auf die Abhängigkeit vom heteronormativen Umfeld, auf das 'Wohlwollen der Anderen'. Etwas überspitzt ausgedrückt, zwingt sie queere Menschen in die Position eines unmündigen Kindes, das gefragt wird, ob die Eltern auch tatsächlich ihr Einverständnis für dieses und jenes gegeben haben.

Fragen zu Reaktionen z.B. auf das Coming Out seitens der Familie, Freund_innen etc. verstehe ich im Hinblick auf eine potentiell feindliche Drohkulisse als eine subtile Form der Disziplinierung. Denn sie impliziert, dass diese zumindest ein Mitspracherecht beim eigenen Selbstentwurf besitzen. Eine Interviewpartnerin, die der Künstlerin Conchita Wurst einmal die Frage stellte, ob sich ihre Eltern an ihrer Aufmachung stören würden, und zu hören bekamen, dass sie ihr Ding durchgezogen hätte, egal ob mit oder ohne elterliche Zustimmung, war sichtlich irritiert.

Nicht, dass ich hier falsch verstanden werde, ich habe volles Verständnis dafür, dass Menschen - besonders wenn sie sich selbst als queer definieren - durch solche Fragen das gesellschaftliche Klima bezüglich eines bestimmten Themas zu erfassen versuchen. Dennoch bleibt die Implikation, dass sie queere Menschen - ob gewollt oder nicht - eine Art Bittsteller-Status zuschreiben, bei dem die Meinung des heteronormativen Umfelds von maßgeblicher Bedeutung ist. Gerne würde ich hier von einer Überbewertung sprechen, die sich mit ein wenig praktischer Übung abtrainieren lässt. Angesichts der gesellschaftlichen Verhältnisse und unserer tatsächlichen Abhängigkeit von diesen sehe ich hier jedoch so gut wie keine realistischen Handlungsmöglichkeiten. Die Meinung des heteronormativen Umfelds ist von maßgeblicher Bedeutung. Leider.

Machtdemonstration, Einschüchterung und die Befindlichkeiten der Mehrheit...

Bei Fragen, die sich um elementare Dinge wie der Wunsch nach Anerkennung, Geborgenheit oder Liebe drehen, werden daher wieder einmal primär die Befindlichkeiten der Mehrheitsgesellschaft in den Mittelpunkt gestellt und queere Menschen dadurch gezwungen, sich mit einer möglicherweise problematisierenden Sichtweise auf einen wesentlichen Teil ihres Sosein auseinanderzusetzen. Was die Folgen angeht, sich als Minderheit stets durch die exotisierende Fremdperspektive wahrzunehmen, habe ich in einem vergangenen Post bereits versucht zu erläutern.

Hinzu kommt der Eindruck, dass bei Phrasen wie 'Wer von seinem Umfeld toleriert werden möchte, sollte ... tun' das Wissen um das dahinter stehende Machtgefälle durchaus vorhanden ist und solche Äußerungen - ob gerechtfertigt oder nicht - bewusst eingesetzt werden, um Menschen klein zu halten. Mir scheint, ihnen wird auf diese Weise subtil zu verstehen gegeben, dass man mit ihnen letztlich machen kann, was man will, da man sich ja in der Mehrheit befindet. Es geht hierbei letztlich also auch um latente Machtdemonstration und Einschüchterung.

Hetero-Referenz ist ein Problem

Nun könnte man argumentieren, nicht die Hetero-Referenz selbst sei das Problem, sondern das dahinter stehende Machtgefälle. Ich verstehe diesen Einwand, doch teile ich ihn nicht. Klar wäre die Hetero-Referenz ohne das Machtgefälle mit seinen unumgehbaren Mehrheitsverhältnissen nahezu bedeutungslos. Doch da das Machtgefälle nun einmal existiert, ist sie nicht nur ein harmloses Vergleichen unterschiedlicher Meinungen, kein gleichwertiges Gegenüberstellen verschiedener Lebensweisen.

Vielmehr bildet sie die Grundlage zum Be- bzw. Abwerten selbstbestimmter nicht-heteronormativer Selbstentwürfe und lenkt den Fokus weg von eigenen Befindlichkeiten hin zu denen der - sowieso schon überrepräsentierten - Mehrheitsgesellschaft. Dabei ist die Bezugnahme auf heteronormative Standards nicht selten Ausdruck einer Einschüchterungskultur, bei denen der Mehrheit ein Mitspracherecht hinsichtlich queerer Selbstentwürfe eingeräumt wird. Angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen und gesetzlichen Situation stellt die Hetero-Referenz also durchaus ein Problem dar. Und wir sollten nicht müde werden, darauf hinzuweisen.

 

Text von Charlie

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Kommentare: 12
  • #1

    Andy (Sonntag, 10 Mai 2015 23:13)

    Puh, das ist ganz schön viel Theorie. Muss gestehen, da komm ich nicht ganz mit. Bin eher der Praktiker.
    Sag mal, wann macht denn euer Gemeinschaftszentrum auf? Auf der ersten Seite steht, ihr seid seit 2011 dran. Würde da gern ma nen Kaffee trinken kommen, wenn´s bei mir auf´m Weg liegt.

    Gruß

    Andy

  • #2

    Charlie (Montag, 11 Mai 2015 01:04)

    @Andy
    Danke dir für dein Feedback. Ich neige wohl etwas zu theoretisch-abgehobenen Texten ;-)

    Wann wir als Gemeinschaftszentrum aufmachen können, hängt immer auch davon ab, wie viele Menschen Zeit und Energie investieren (können). Bislang reichen unsere Kapazitäten dafür leider noch nicht aus. Falls du Interesse hast, uns bei der Arbeit zu unterstützen, bist du herzlich eingeladen, mal bei einem unserer offenen Treffen vorbeizukommen.

    Um schon einen kleinen Schritt in Richtung Gemeinschaft zu machen, organisieren wir zudem unterschiedliche Freizeitangebote wie Picknicks oder Wanderungen, Diskussionsrunden und regelmäßig stattfindende Gruppen. Mehr findest du unter der Rubrik 'Aktivitäten' bzw. 'Termine'. Wir freuen uns, wenn du mal vorbeischaust!

    Grüße,

    Charlie

  • #3

    Andy (Montag, 11 Mai 2015 17:55)

    Nee, das ist dann ein Missverständnis, suche keine Diskussionsrunde oder Picknick, sondern was, wo ich mal nach Arbeit mal kurz nen Kaffee trinken kann und was nicht gleich so kommerziell ist, bisschen was wie die AHA.
    Wann ist denn spätestens mit Eurer Eröffnung zu rechnen?

  • #4

    Charlie (Dienstag, 12 Mai 2015 11:23)

    @Andy
    Wir befinden uns bislang noch mitten in der Sondierungs- und Finanzierungsphase, so dass sich die Eröffnung leider noch etwas hinziehen wird. Einen genauen Zeitpunkt können wir daher noch nicht nennen. Sobald sich etwas tut, werden wir es aber hier bzw. auf Facebook bekannt geben.

    Gruß von Charlie

  • #5

    Lars (Dienstag, 12 Mai 2015 19:55)

    "Fakt ist, die Meinung der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft muss queere Menschen leider interessieren, während es umgekehrt keine Rolle spielt."

    Einspruch! Das kann man, meiner praktischen Erfarhung nach, so nicht sagen. Das ist m.E. eine zu kindlich-abhängige Haltung zur sogenannten Mehrheitsgesellschaft und eine zu saubere Trennung der Lager, (was ich allerdings durchaus nachempfinden kann, von Zeit zu Zeit ist das schon so.) Ich denke, man kann lernen daraus herauszuwachsen. Zu jedem erwachsenen queeren Menschen gehört ein Umfeld, mit dem er / sie in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis steht. Je älter man wird, umso mehr wird einem das deutlich. Es gibt Heteros, die ein Bedürfnis haben, von queeren Menschen anerkannt und akzeptiert zu sein. Es gibt auch viele Heteros, die queeren Menschen helfen oder sie unterstützen wollen. Viele Eltern wollen, dass es ihren Kindern gut geht, so wie sie sind, und dass sie mit ihnen Kontakt halten, Geschwister, Freunde, Bekannte, Kollegen ebenso. Wir sind nicht allein, wir sind viel mehr.

    Dieses Selbstbewusstsein sollte man in den Altag mitnehmen. Wenn man sich ermächtigt, mit dem "anderen" auf Augenhöhe und als Erwachsener zu sprechen, dann wundert man sich manchmal, was einem die Leute dann so erzählen und man entdeckt die gleichen Fragen, Probleme, die Sehnsucht nach Anerkennung durch eine scheinbar übermächtige Mehrheit bei anderen, nur dass der Stachel an einer anderen Stelle piekt.

    Und "der Gesetzgeber"? Der besteht ja auch nicht nur aus heteronormativen Ideologen, sondern zunehmend und in verschiedenen Ländern in unterschiedlicher Internsität in, wie soll ich sagen, queersensitiven Menschen. Auch die "heteronormative" Welt ist bunter, als es scheint.

    Insofern gibt es Handlungsoptionen. Queere Menschen sollten sich bewusst machen, dass sie und ihre Erfahrungen gebraucht werden und dass andere Menschen im Grunde neugierig auf ihre Sichtweise der Welt sind, weil sie dadurch etwas über sich selbst erfahren - und umgekehrt, auch wenn Erkenntnis einen dazu zwingt, sich zu verändern. Ein solcher Dialog setzt aber die Bereitschaft voraus, klaglos und vorwurfsfrei mit der eigenen Verletzlichkeit umzugehen.

    Danke für den Text, der meinen Widerspruch und meine Reflexion erst in Gang gesetzt hat.

  • #6

    Charlie (Dienstag, 12 Mai 2015 23:05)

    @Lars
    Danke für deinen Kommentar. Schön, dass du hier so fleißig mitliest und kommentierst!

    Zum Thema: Ich habe mich evtl. nicht deutlich genug ausgedrückt: Zum einen halte ich die Trennung Homo/Hetero ebenfalls für problematisch, da es genügend Heteros gibt, die nicht heteronormativ leben und für queere Lebensweisen sensibilisiert sind. Auch gibt es natürlich zahlreiche Schwule, Lesben und Bisexuelle, die dafür nichts übrig haben. Aus diesem Grund versuche ich meist statt 'hetero' - im Sinne von heterosexuell - 'heteronormativ lebend' zu verwenden. 'Queer' schließt meines Erachtens bestimmte heterosexuelle Menschen (egal ob trans* oder cis) mit ein. Klare Lager ergeben sich demnach nicht aus Kategorien wie Geschlecht, sexueller Orientierung, Geschlechtsidentität etc., wohl aber aus Menschen, die entweder für die Problematik Heteronormativität bzw. Heterosexismus sensibilisiert sind, oder nicht. Und ja, das macht für mich ehrlich gesagt einen ziemlich großen Unterschied.

    Auch sehe ich, dass meine Formulierung in dem von dir zitierten Satz missverständlich war. Es hätte heißen müssen: "Fakt ist, die Meinung der heteronormativen Mehrheitsgesellschaft muss queere Menschen leider interessieren, während es umgekehrt keine Rolle zu spielen braucht." Mir ist klar, dass es auch 'Heteros' (nicht heterosexuell, sondern im Sinne von nicht heteronormativitätsbewusst) gibt, die von queeren Menschen anerkannt und akzeptiert werden wollen, die ihnen helfen und sie unterstützen. Das möchte ich überhaupt nicht in Abrede stellen. Was ich aber damit verdeutlichen wollte ist, dass es ein Machtgefälle hinsichtlich der Auswirkungen der gegenseitigen Meinungen auf die jeweiligen Lebensumstände übereinander gibt. Die schlechte Meinung, die queere Menschen über nicht-queeren Mensche haben, schlägt sich nicht in körperlichen Angriffen, rechtlicher und gesellschaftlicher Diskriminierung bis hin zu handfester Verfolgung nieder. Hier lässt sich der Standpunkt nicht einfach beliebig austauschen, das wäre meiner Meinung nach etwas an der Realität vorbei. Und so begrüßenswert und wichtig Selbstbewusstsein auch sein mag, die entscheidenden Akteur_innen gegenwärtigen Mehrheitsverhältnisse begegnen uns als queeren Menschen leider nicht auf Augenhöhe, sonst bräuchten wir über die im Text angeführten Benachteiligungen gar nicht mehr diskutieren.

    Was du hinsichtlich des Gesetzgebers schreibst, würde ich aber teilweise so unterschreiben. Politik ist immer ein 'strategisches Feld', in dem unterschiedliche Akteur_innen um Positionen ringen, sicher keine geschlossene Front aus heteronormativen Ideologen. Eine solche Argumentation greift in der Tat zu kurz. Sorry, wenn das im Text so rüber kam. Ich hoffe, ich konnte dir meine Position so einigermaßen verständlich klarmachen.

    Grüße

    Charlie

  • #7

    fink (Donnerstag, 14 Mai 2015 16:59)

    Danke für den erhellenden Artikel und die erweiternde Diskussion. Auch diesmal hast du einen Aspekt analysiert, der uns wohl fast alle betrifft, den wir aber nicht immer so klar im Bewusstsein haben. Ich nehme wieder wichtige Anregungen mit.

    Für eure Projekte wünsche ich viel Energie und beste Vibrations! ;-)

  • #8

    Charlie (Sonntag, 17 Mai 2015 21:19)

    @fink
    Ganz lieben Dank für deine guten Wünsche!

    Schön zu lesen, dass du etwas aus meinen Texten mitnehmen kannst. Wenn das so ist, hat sich das Schreiben gelohnt.

    Auch dir weiterhin ganz viel Erfolg mit deinem Blog. Ich freue mich schon auf neue Texte!

  • #9

    Robert (Dienstag, 19 Mai 2015 21:31)

    https://robertulmer.wordpress.com/

    Ich bin kein „queerer Mensch“. Der Vorteil des Queer-Begriffes wäre eben gerade der Verzicht auf die Schubladen-Identitäten wie schwul oder lesbisch. Das Queere, das Schräge ist norm-übertretendes Verhalten, es ist eine über die Norm hinaus gehende Emotionalität, aber es ist keine andersartige Menschensorte. Queerness ist die Option, das Leben in Bereiche jenseits der heteronormativen Grenzen zu öffnen. Queerness ist eine Einladung, eine Versuchung und eine Angst – die Angst davor, dass einiges ins Rutschen geraten kann. Und ein zuversichtlicher und freundlicher Umgang mit Queerness zeigt, dass zwar einiges ins Rutschen gerät, aber die queer Abgerutschten nicht im Abgrund und Unglück landen, sondern auf einem neuen und immer größeren werdenden Spielplatz – wobei die dort gespielten Spiele durchaus ernst und leidenschaftlich sind.

    Gesellschaftliche Anerkennung brauche ich nicht – mir genügt die Anerkennung seitens meiner Freunde. Nun kann es ja sein, dass es schwerer ist, abseits der Normen Freundschaften zu schließen. Aber kann es nicht auch sein, dass zumindest manche diese Freundschaften dann mehr taugen als die „mainstreamigen“ Kumpel-Kontakte? Jedenfalls ist es möglich, von der Norm abweichende Freundschaften, Gesprächskreise, Gemeinschaften zu gründen. Das Kontakt-herstellen und den Umgang mit Gruppendynamiken lernen wir übrigens vom hetero-genormten Mainstream, der eben nicht nur und ausschließlich feindselig ist, sondern eine Fülle von Kulturtechniken anbietet. Ebenso wie ich – als Atheist und Agnostiker – eine Fülle von Kulturtechniken aus religiösen Kontexten lernen kann (z.B. Chorsingen, z.B. Meditation).

    Charlie, du klagst über Ungerechtigkeit und forderst so etwas wie Fairness zwischen dem Norm-Diskurs und dem Queer-Diskurs. Aber diese Fairness wird es nicht geben, und es ist fraglich ob sie gut wäre. Diejenigen, die Fortschritt (z.B. eine queere Welt) wollen, haben zu begründen, warum das was sie wollen besser ist als das was gilt. Nehmen wir ein anderes Beispiel, die mögliche Humanisierung unserer Arbeitswelt mit einem bedingungslosen Grundeinkommen. Auch hier gibt es eine Norm, so etwas wie einen „arbeitsnormativen Mainstream“, auch hierauf bezogen gibt es „queere“ Menschen, in dieser Angelegenheit wären das Menschen mit einer starken Orientierung auf Selbstbestimmung und Zeitwohlstand, Menschen mit einer gewissen polemischen Skepsis gegenüber der quasi-religiösen Vergottung der Arbeit. Es wäre nun müßig, sich zu beklagen, dass der „arbeitsnormative Mainstream“ die arbeits-„queeren“ Menschen ausgrenzte, es wäre müßig, hier Gleichberechtigung und Fairness einzufordern. Denn wenn die Neuerer sich darauf beschränken, die Diskriminierung ihrer angeblichen Andersartigkeit zu beklagen, dann haben sie schon verloren. Nein, die Neuerer haben das Bessere, das Fortschrittliche ihres Ansatzes zu begründen. Natürlich ist das anstrengender, als einfach bequem und selbstgerecht in der Norm zu verharren – aber ist es nicht auch viel aufregender?

  • #10

    Charlie (Dienstag, 19 Mai 2015 21:40)

    @Robert
    Besten Dank für die vielen wichtigen Denkimpulse.
    Erstmal vorweg: Ich denke, dass wir um den Begriff 'queer' sicher noch einige Debatten führen werden. Bislang sehe ich ihn auf drei Ebenen: Zum einen als Sammelbegriff für trans*, inter, lesbisch, schwul, bi, pan etc. Zum anderen als Sammelbegriff für all jene, die sich bewusst jenseits dieser Kategorien definieren. Und zu guter Letzt als bewusste Lebensweise jenseits der Heteronormativität. Nach allem, was ich bislang an Diskursen hierzu mitbekommen habe, werden diese drei Definitionen teils parallel verwendet. Wenn ich dich richtig verstanden habe, tendierst du in deinem Verständnis zur zweiten Definition. Doch egal, welche dieser Erklärungen eine_n am Ende überzeugt, denke ich nicht, dass es ein anti-identitäres Queer-Verständnis geben kann. Diese Vorstellung halte ich ehrlich gesagt für etwas naiv. Wenn wir für etwas ein Begriffskonzept entwickeln, kann dies nicht gleichzeitig identitätslos sein. Sonst würde es den Begriff nämlich gar nicht erst geben. Dann sind wir halt 'queer' im Sinne von 'label-los', nur dass auch das bereits wieder ein Label ist. Und Menschen, die sich nach dieser Definition als 'label-los' verstehen, sind queere Menschen. Insofern können es in der Tat 'andersartige' (Achtung: Hetero-Referenz!) Menschen sein. Von 'Menschensorten' zu sprechen, halte ich aber auch für unpassend. Genauso wie bei Veganern, Christen oder BDSM'lern.

    Zum Thema Anerkennung: Ich habe den Eindruck, du unterschätzt die Anerkennung durch andere. Vielleicht, weil sie dir in Situationen inzwischen so selbstverständlich zu Teil wird, dass du sie im Alltag meist gar nicht mehr bemerkst. Wenn dich 'die Gesellschaft' als schwules Paar nicht anerkennt, hättest du evtl. kein Besuchsrecht oder wärst nicht auskunftsberechtigt, wenn dein Partner mal im Krankenhaus liegt. Du dürftest dir keine gemeinsame Wohnung mit ihm nehmen, falls du es wünschen würdest. Dein Arbeitgeber würde es nicht gerne sehen, wenn du deinen Partner zur Geschäftsfeier mitbringst etc. All das sind Formen der rechtlichen oder auch gesellschaftlichen Anerkennung. Glücklicherweise haben mutige Menschen diese Fortschritte bereits erkämpft, doch sie sind nicht einfach vom Himmel gefallen. Das heißt natürlich nicht, dass die Anerkennung des unmittelbaren Umfelds nicht auch sehr wichtig ist.

    Zum Thema Gerechtigkeit: Ich bin mir nicht ganz sicher, was du mit der 'Klage über Ungerechtigkeit und Fairness zwischen dem Norm-Diskurs und dem Queer-Diskurs' ausdrücken möchtest, und es war eigentlich gar nicht meine Absicht, dass das so rüber kommt. Vielleicht könntest du das nochmal etwas genauer erklären?
    Was ich aber sagen kann ist, dass ich nicht daran glaube, dass wir jemals eine 'queere Welt' haben werden, in dem Sinne dass Heteronormativität, Heterosexismus und Queerfeindlichkeit der Vergangenheit angehören. Queer - nach meinem Verständnis - ist stets in der Opposition, stellt unbequeme Fragen, ist quasi der Stachel im heteronormativen Selbstverständnis. Dennoch denke ich, dass ein Aufweichen des rigiden Zweigeschlechtersystems vielen queeren Menschen das Leben enorm erleichtern würde. Ich würde den Fortschritt also nicht in der Ablösung der 'bösen Hetero-Norm' durch eine angeblich bessere 'Queer-Norm' sehen, sondern darin, dass der heteronormative Anpassungs- und Erwartungsdruck reduziert wird und es mehr Platz für innovative Selbstentwürfe gibt, die nicht der Hetero-Norm entsprechen.

  • #11

    Robert (Dienstag, 02 Juni 2015 15:38)

    @Charlie.
    Danke für die Antwort, die mir hilft, meine Position vielleicht noch klarer darzustellen:

    Nein, natürlich wäre mit queer im Sinne von nicht-etikettiert nichts gewonnen, wenn weiterhin wie gehabt die Menschen sich gegenseitig etikettieren und in die bekannten Schubladen (schwul, lesbisch, bi, trans, etc. pp.) stecken. Mein Punkt ist die Perspektive einer Welt, die insofern „queer“ ist, weil dann das Etikettieren der Menschen in schwul, lesbisch, bi, trans, etc. pp. der Vergangenheit angehört. "Naiv"?

    Natürlich müssen die Hetero-Privilegien abgeschafft werden, da gibt es keinen Dissens.

    Und, nein, ich denke nicht, dass ich die Bedeutung der Anerkennung durch Andere unterschätze. Ich glaube nur, dass die „gesellschaftliche Anerkennung“ vergleichsweise unwichtig ist, verglichen mit der hautnahen und treffsicheren und so leidenschaftlich begehrten und ersehnten Anerkennung durch die Leute, die wir tatsächlich persönlich kennen: in Freundschaften, in Liebesbeziehungen, in der Sexualität.

    Als "Klage über Ungerechtigkeit" empfand ich deinen ja durchaus zutreffenden Hinweis auf die Dominanz der Hetero-Referenz. Mein Punkt hierzu ist, dass wir tatsächlich an einer spannenden gesellschaftlichen Entwicklung teilnehmen, und das Ziel könnte ich nicht besser formulieren als du, „dass der heteronormative Anpassungs- und Erwartungsdruck reduziert wird und es mehr Platz für innovative Selbstentwürfe gibt, die nicht der Hetero-Norm entsprechen.“

    https://robertulmer.wordpress.com/

  • #12

    Charlie (Mittwoch, 03 Juni 2015 15:07)

    @Robert

    Ich denke, dass 'queer' im Sinne von 'label-los' gerade dann, wenn es die bekannten Schubladen (schwul, lesbisch, bi, trans, etc. pp.) nicht mehr geben würde, wenig Sinn macht. Wenn es weder rechtliche noch gesellschaftliche Benachteiligungen bzw. Diskriminierungen sexueller und geschlechtlicher Minderheiten gäbe und die Benennung der nicht-heteronormativen Attribute genauso überflüssig wäre, wie z.B. die Augenfarbe. Warum brauchen wir dann noch einen Begriff, der etwas beschreibt, was für die Gesellschaft/das Recht völlig irrelevant ist? Ich habe dich in diesem Punkt vielleicht noch immer nicht verstanden, aber was genau soll 'queer' dann noch aussagen? Wenn Heteronormativitätskritik durch eine sich wandelnde Gesellschaft an Relevanz verliert, wozu sollten wir uns dann überhaupt noch 'queer' nennen?

    Thema Anerkennung: Sorry, aber als 'vergleichsweise unwichtig' würde ich die gesellschaftliche/rechtliche Anerkennung nach wie vor nicht bezeichnen. Ich möchte mich ohne Angst auch als Paar im öffentlichen Raum frei bewegen können. Ich möchte nicht rechtlich schlechter gestellt sein, als der Rest meiner Familie. Ich möchte auskunftsberechtigt sein, wenn mein Partner im Krankenhaus liegt. Ich möchte nicht, dass Friedhöfe sich eines Tages weigern, mich und meinen Partner in einem Grab zu beerdigen etc. Es gibt unendlich viele Situationen im Alltag, an denen uns inzwischen Anerkennung zu Teil wird. Oft sind sie inzwischen so selbstverständlich, dass wir uns gar nicht ausmalen können, wie es anders wäre. Im Alltag bin ich wesentlich öfter auf die Anerkennung der Gesellschaft/des Rechts angewiesen, als ich es bemerken könnte. Und nur zum Teil bewege ich mich dabei in Kontexten, in denen ich Freund_innen, Partner_innen oder Familienangehörige (also das unmittelbare Umfeld) um mich habe. Ohne Frage spielt ihre Anerkennung für mich auch eine große Rolle, aber das heißt nicht, dass die allgemeine Anerkennung deshalb 'vergleichsweise unwichtig' ist.

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