Selbstentfremdung

In einem vorangegangenen Blogpost hatte ich das Thema Selbstentfremdung schon einmal aufgegriffen. Da ich es gleichermaßen wichtig wie interessant finde, und der Ansicht bin, dass das Thema einen eigenen Eintrag verdient hat, möchte ich hiermit nochmal ausführlicher darauf eingehen. Vielleicht regt es ja etwas zum Nachdenken an. Die Fragen, denen ich mich widmen möchte sind zum einen, welche Auswirkungen heteronormative Sprachhandlungen auf die Eigenwahrnehmung queerer Menschen haben, und zum anderen, wie diese mit dem Phänomen der Selbstentfremdung in Zusammenhang stehen.

Vorweg möchte ich anmerken, dass ich mich zwar bemüht habe, dieses abstrakte Thema möglichst allgemein verständlich darzulegen, mir dies aber möglicherweise nicht immer in aller Konsequenz gelungen ist. Sollte dieser Blogpost also mehr Verwirrung gestiftet haben als dass er zur Klärung beitragen konnte, freue ich mich über weitere Nachfragen in der Kommentarspalte.

Zunächst etwas Theoretisches...

Beginnen möchte ich mit einer kurzen Bestimmung des Begriffs 'Subjektstatus'. Darunter verstehe ich weniger ein Subjekt im linguistischen Sinn des Agens, bei dem es primär darum geht, die handelnden Akteure eines Satzes zu bestimmen. Vielmehr soll der Begriff hier den Status beschreiben, sich selbst als Subjekt - also als das 'ich' oder 'wir' - zu begreifen. Die Abgrenzung erscheint mir im Vorfeld notwendig, da das Agens nicht zwangsläufig das 'ich' oder 'wir' sein muss, sondern - anders als bei meiner Definition - auch 'er' oder 'sie' bedeuten kann. Dass ein Mensch sich überhaupt erst als Subjekt begreifen kann, setzt jedoch voraus, dass es auch etwas gibt, von dem das eigene Selbst abgegrenzt wird. Anders gesagt, es macht keinen Sinn von einem 'wir' zu sprechen, wenn es kein 'sie' gibt. Den daraus folgenden Status derjenigen, von denen sich abgegrenzt wird, bezeichne ich im Folgenden als 'Objektstatus', sprich das Begreifen von sich selbst als Objekt. Die Grundvoraussetzung Subjekt zu sein bzw. sich selbst als ein solches erfahren zu können, basiert demnach darauf, zum 'ich' oder 'wir' dazuzugehören.

Doch auf welche Weise stellen sprachliche Handlungen diesen Subjekt- oder Objektstatus eines Menschen her? Eine entscheidende Rolle spielt hierbei das Ansprechen eines Subjekt oder das Sprechen über ein Objekt. Weniger als der Unterschied zwischen dem Sprechen miteinander ('ich' 'du' oder 'wir' 'ihr'), geht es also eher um das Sprechen übereinander ('ich' 'er/sie' oder 'wir' 'sie'). Soll heißen, dass beispielsweise Person A Person B mit einem 'wir' ansprechen kann, wodurch Person B als Teil der eigenen Gruppe ihren Subjektstatus erhält. Oder aber Person A redet über Person B als 'sie' und spricht ihr somit den Subjektstatus ab.

In unseren alltäglichen Gesprächen stellen wir, ohne uns dessen bewusst zu sein, ständig unseren eigenen Subjektstatus' und den unserer Mitmenschen her. Sei es, dass wir mit der netten Nachbarin ein kurzes Schwätzchen im Treppenhaus halten oder eine Mail an einen guten Bekannten schicken. Ebenso wird unser eigener Subjektstatus durch entsprechende Sprachhandlungen anderer hergestellt. Gleichzeitig erzeugen wir aber auch den Objektstatus anderer, indem wir über sie sprechen und verlieren unseren eigenen Subjektstatus in Gesprächen Dritter über uns. Das alles sehe ich als natürlichen Bestandteil menschlicher Kommunikation, der sich per se weder als positiv noch als negativ charakterisieren lässt.

Und wo ist dann das Problem?

Dies gilt jedoch nur so lange, wie das Merkmal, anhand dessen der Subjekt- bzw. Objektstatus von Personen ausgemacht wird, keinem gesellschaftlichen Hierarchiegefüge unterliegt. Sobald dies der Fall ist, wird besonders das Sprechen über sie problematisch. Natürlich nicht für diejenigen, die ihren eigenen Subjektstatus auf Kosten anderer herstellen, sondern für eben jene andere. Dabei muss es sich noch nicht mal um die marginalisierte Identität einer bestimmten Gruppe selbst handeln, sondern es reichen schon die Aspekte, an denen sich die Marginalisierung festmacht. Es ist z.B. etwas anderes, ob schwule Männer über die rechtliche Benachteiligung debattieren, von der sie selbst betroffen sind, oder ob heterosexuelle Menschen dies tun. Nicht dass ich falsch verstanden werde, ich bin mir völlig bewusst, dass es notwendig ist, dass auch Heterosexuelle beispielsweise über das Thema Eheöffnung diskutieren, selbst wenn es sie nicht persönlich betrifft. Dennoch sehe ich auch, was die Aberkennung des Subjektstatus' für schwule Männer - und vermutlich alle queeren Menschen - bewirkt.

Ein Beispiel aus dem Leben

Das deutsche Fernsehen - oder zumindest die öffentlich-rechtlichen Sender - vertreten offiziell den Anspruch, gesellschaftliche Vielfalt abzubilden. Von welcher Vielfalt hierbei die Rede sein soll, bleibt mir allerdings ein Rätsel. Die paar Male, in denen ich gelangweilt genug war, den Fernseher einzuschalten, sah ich absolut nichts, was meine Lebensrealität auch nur ansatzweise abbildete. Queere Menschen oder auch nur gleichgeschlechtliche Paare im deutschen Fernsehen? Fehlanzeige. Trotzdem bin ich auch als schwuler Mann gezwungen, meinen 'Rundfunkbeitrag' zu zahlen.

Im vergangen Jahr hat die ARD nun ihre berühmt-berüchtigte 'Toleranzwoche' gestartet, in der es im Vorfeld unter anderem hieß: 'Ist sich das knutschende schwule Paar in der U-Bahn eigentlich bewusst, wie viel Toleranz es seinen Mitreisenden abverlangt?' Ebenfalls durfte ich an Haltestellen Plakate bewundern, die ein küssendes schwules Paar zeigten und die scheinbar harmlose Frage stellte: 'Normal oder nicht normal?' Ungeachtet dessen, ob das dazugehörige Programm nun als gut oder schlecht bewertet werden kann, ist mir dabei deutlich bewusst geworden, als wie verletzend ich es empfand, dass eine Institution, die vorgibt mich direkt anzusprechen (und zudem mein Geld bekommt), mir nun meinen Subjektstatus abspricht, indem sie mal wieder nur über mich sprach bzw. mich bewertete.

Selbstentfremdung und ihre Folgen

So pathetisch es auch klingen mag, lässt sich dieses Gefühl doch am besten mit 'Selbstentfremdung' beschreiben. Indem ich im Namen der Öffentlichkeit angesprochen wurde, im nächsten Schritt jedoch über mich gesprochen wurde, schien sich der Teil von mir, der sich als Subjekt wahrnahm, gewissermaßen von meinem Selbst loszulösen. Das Gefühl hatte etwas eigenartig Vertrautes. Ich begann daraufhin darüber nachzudenken, in welchen Situationen es mir ähnlich ergangen war und staunte nicht schlecht. Besonders verblüfft war ich über die Tatsache, dass auf einmal viele Dinge Sinn zu machen schienen, die vorher nicht ausreichend benennen konnte. Ich stellte fest, dass ich den Verlust meines Subjektstatus' schon unzählige Male erlebt hatte. Interessanterweise gar nicht unbedingt durch Debatten wie bei der Toleranz-Woche, sondern meistens im Gespräch miteinander durch fälschliche Anrufung als vermeintlich heterosexueller Mann: Die scheinbar so selbstverständliche Frage nach meiner Freundin oder das Umdeuten meines Partners als 'Kumpel', wenn ich ihn als meinen 'Freund' vorstellte etc.

Ich könnte zahlreiche weitere Beispiele aus dem Alltag nennen, doch das scheint mir müßig. Wichtig ist vielmehr festzuhalten, was die Selbstentfremdung für mich bedeutet, nämlich eine permanente Übersetzungsleistung. Ich begriff zum ersten Mal, dass ich als schwuler Mann im heteronormativen Umfeld ständig gesellschaftliche Kontexte mit übersetzen muss. Oder anders gesagt, mir wurde klar, dass mein Umfeld in bestimmten Bereichen eine andere Sprache zu sprechen scheint als ich, auch wenn die Worte dieselben sind. Je heteronormativer mein Umfeld dabei ist, desto massiver nehme ich die Selbstentfremdung wahr, und desto mehr strengt mich die permanente Übersetzungsleistung an. Ich weiß nicht, ob es nur mir so geht oder ob andere queere Menschen ähnliche Erfahrungen machen. Möglicherweise ist uns auch gar nicht klar, wie immens dieser Übersetzungsstress tatsächlich ist, weil wir es praktisch kaum anders kennen.

Keine Alternativen?

Letztlich sind wir als queere Menschen - wie jede andere Minderheit auch - im Alltag meist in heteronormative Strukturen eingebunden, die uns hier keine Alternative lassen. Sei es nun die Schule, die Universität, der öffentliche Raum, die Arbeit oder die eigene Familie, wir kommen nicht umhin, die besagte Übersetzungsleistung zu erbringen, ob wir es nun wollen oder nicht. Dennoch besitze ich - anders als zahlreiche Generationen vor mir - inzwischen zumindest das Privileg, virtuelle oder reale queere Orte aufsuchen zu können, was den Stress zeitweise etwas verringert und mir ermöglicht, mich selbst trotz meines Schwulseins auch mal als Subjekt erfahren zu können. Orte, an denen das 'wir' nicht gleichbedeutend mit 'heterosexuell' ist. Das mag für viele nicht wichtig sein, für mich sind solche Orte jedoch von unschätzbarem Wert und ich bin dankbar, dass es sie gibt.


Text von Charlie

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Kommentare: 2
  • #1

    Lars (Dienstag, 10 Februar 2015 17:52)

    Das ist alles schon sehr schön beschrieben. Schmerzlich ist nicht die "falsche" Kategorisierung, sondern ds Gefühl des Ausgeschlossen-Seins von einem "Wir". Aber alle Menschen gehören nur teilweise zu einem "wir" - es gibt für uns alle Situationen, wo wir "anders" sind: sei es aufgrund des Geschlechts, der Hautfarbe, der Sprache, Religion, körperlicher Merkmale oder Einschränkungen, der Familiengeschichte, der Begabung, der sozialen Schicht etc.

    Das Augeschlossen-Sein ist für queere Menschen deshalb so problematisch, weil es in einer Phase erlebt wird, wo die eigene Identitätsbildung noch im vollen Gange ist. Wenn man älter wird, seine "männlichen" und "weiblichen" Seiten für sich sortiert hat, sich verliebt hat, Liebskummer durchstanden hat, Beziehungserfahrungen hinter sich hat, dann erkennt man mest, dass sich diese Erfahungen von denen der Heteros nicht so tiefgreifend unterscheiden müssen und man ist schneller in der Lage, über falsche Zuschreibungen hinwegzusehen oder diese souvrän zu korrigieren. Es braucht dann kaum noch ein Umdenken. Es ist also goldrichtig, dass die neuen Bildungspläne an Schulen jungen menschen durch diese schwierige Zeit der Selbstentfremdung und Wiederfindung helfen. Später gilt auch hier: It gets better ...

  • #2

    Charlie (Dienstag, 10 Februar 2015 23:32)

    Danke für deinen Kommentar.
    Ich denke auch, dass die falsche Kategorisierung per se nicht das Verletzende ist, sondern dass sie erst in Kombination mit dem Gefühl, deswegen vom 'wir' ausgeschlossen zu sein, zu etwas Verletzendem wird. Auch die Ergänzung, dass Menschen immer irgendwo 'anders' (also nicht 'wir') sind, finde ich wichtig. Vermutlich spielt es dabei eine Rolle, wie oft bzw. in welchen Situationen wir Selbstentfremdung durch Absprechen unseres Subjektstatus erleben. Als (erwachsener) schwuler Mann mache ich sie leider heute noch genauso häufig wie während meiner Jugend. Und es wäre gelogen zu behaupten, das ließe mich nun, wo die Identitätsbildung etwas weiter fortgeschritten ist, völlig kalt. Selbstentfremdung und Übersetzungsstress waren und sind nach wie vor elementarer Bestandteil meiner Alltagserfahrung. Der Unterschied ist eher, dass ich solche Erfahrungen heute benennen kann.

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