Disempowerment verstehen

Vor einiger Zeit habe ich mich in einem Blogpost mit dem Thema Empowerment und Raumeinname beschäftigt. Dabei habe ich versucht aufzuzeigen, wie das Bestärken im eigenen Sosein dazu führt, dass Menschen das Gefühl haben, sich - so wie sie sind - im öffentlichen Raum selbstverständlich zeigen und bewegen zu können. In diesem Blogpost möchte ich das Thema nun von der anderen Seite beleuchten und der Frage nachgehen, was Disempowerment mit Ohnmachtsgefühl zu tun hat? In welchen Situationen lähmt es uns, und wie konstituiert es sich?

Beispiele aus dem Alltag

Viele queere Menschen kommen im Laufe ihres Lebens in die ein oder andere Situation, sich in ihrem Queersein gegen Angriffe verteidigen zu müssen, seien sie nun verbal oder physisch. Ungeachtet der eigenen körperlichen oder zahlenmäßigen Überlegenheit wird dabei oft mit großer Ohnmacht reagiert. Hierzu ein kleines Beispiel aus meinem Leben: Vor einiger Zeit war ich nachts mit Freunden unterwegs, als wir von einem offensichtlich gewaltbereiten Typen queerfeindlich angepöbelt wurden. Obwohl wir vier gegen einen waren, ließen wir uns von ihm dennoch einschüchtern. Zu Hause angekommen war ich zugegeben froh, dass uns nichts passiert war, doch fragte ich mich gleichzeitig, wie es dazu kommen konnte, dass uns dieser Typ dermaßen ängstigen konnte. Ich betone es hier nochmal, wir waren vier gegen einen.

In einer anderen - weit weniger bedrohlichen Situation - lief ich Hand in Hand mit meinem Freund die Straße entlang und bekam von ein paar Jungs schwulenfeindliche Sprüche hinterher gerufen. Zwar zogen sie den Schwanz ein und versuchten sich herauszureden, sobald ich sie zur Rede stellte, doch wunderte es mich, dass sich zwölfjährige Jungs trauen, zwei erwachsene - und damit körperlich eindeutig überlegene - Männer zu beleidigen? Fürchten sie keine Konsequenzen z.B. in Form gewalttätiger Gegenreaktionen?

Weshalb also meinen Kinder, gefahrlos erwachsene Männer beleidigen zu können, weil diese schwul sind? Wie kommt es dazu, dass vier queere Menschen sich von einem - vermutlich heterosexuellen - Mann einschüchtern lassen? Gibt es hier möglicherweise einen Zusammenhang? Sicherlich lassen sich diese Phänomene nicht monokausal erklären, so dass ich im Rahmen dieses Blogs bestenfalls Erklärungsansätze bieten kann. Dennoch möchte ich es zumindest versuchen. Eine Erklärung, die mir plausibel erscheint, ist Folgende: Zum einen hängt es wohl mit dem Empowerment heteronormativ lebender Menschen, und zum anderen mit dem Disempowerment queerer Menschen zusammen. Doch wie genau wirken sie?

Empowerment & Disempowerment

Empowerment oder Bestärkung gibt Menschen das Gefühl, dass sie so wie sie sind bzw. handeln, 'richtig' sind. Empowerment läuft teils über explizite Bestätigung oder über implizite Bestätigung. Explizite Bestätigung zeigt sich z.B. durch die Teilhabe an rechtlichen Privilegien oder auch durch bekräftigendes Zusprechen, durch Lob, durch Geschenke oder auch einfach fehlende Sanktionen. Implizite Bestätigung zeigt sich hingegen u.a. durch Statusgewinn, Raumlassen oder Anerkennung z.B. in Freundschafts- und Partnerschaftsangeboten. Die Bestätigung im Sosein kann absichtlich oder unabsichtlich - etwa durch ausreichende mediale Repräsentation - erfolgen.

Der Effekt ist am Ende jedoch der Gleiche: Derart empowerte Menschen fühlen sich in ihrem Sosein legitimiert oder - im ungünstigen Fall - legitimierter als andere. Sie sind sich ihrer Machtposition häufig bewusst, ohne zu verstehen wie sie zustande kommt. Es scheint mir, dass Personen, die auf diese Weise selbstverständlich sozialisiert wurden, oft nicht in der Lage sind, sich in andere Positionen hineinzuversetzen und dadurch teils enormen Schaden anrichten. Sei es nun die verbale Herabsetzung vermeintlich Schwächerer oder durch körperliche Gewalt. Während heteronormativ lebende Menschen hierbei ohne sich dessen bewusst zu sein, permanent in ihrem Sosein empowert werden, gilt für queere Menschen nicht selten immer noch das Gegenteil. Natürlich erfahren queere Menschen in anderen Kontexten auch Empowerment-, und heteronormativ lebende Menschen Disempowerment. Hier möchte ich mich jedoch ausschließlich auf das Queersein beziehen.

Wir sehen also, dass Empowerment für das Macht- und Stärkegefühl eine wichtige Rolle spielt. Doch wie sieht es bei Disempowerment aus? Zuerst die Frage, wofür der Begriff in meinen Augen steht. Ich verstehe darunter die Schaffung eines Schwächebewusstseins, das den Betroffenen das Gefühl von Stärke nimmt und sie lähmt. Disempowerment heißt für mich demnach nicht bloß fehlende Bestärkung, sondern auch aktive Ent_stärkung. Explizite Ent_stärkung zeigt sich z.B. durch die Verweigerung oder den Entzug rechtlicher Privilegien oder auch durch offene Diskriminierung, durch Tadeln, durch Sanktionen etc. Implizite Ent_stärkung zeigt sich hingegen u.a. durch Statusverlust oder Raumwegnahme.

Exkurs: Disempowerment und mediale Darstellung

Um die Wirkungsweise von Disempowerment besser zu veranschaulichen, möchte ich im Folgenden typische Täter_in/Opfer-Narrative untersuchen, in denen die jeweiligen Positionen eher festgeschrieben als aufgelöst werden. Wer meint, ungestraft Gewalt ausüben zu können? Wer meint, sich gegen die vermeintliche Übermacht nicht wehren zu können? Der Status hinsichtlich der eigenen Macht oder Ohnmacht beruht dabei vermutlich wesentlich weniger auf tatsächlicher körperlicher oder zahlenmäßiger Überlegenheit als landläufig angenommen. Vielmehr scheint diese eine Eigendynamik hervorzubringen, aus der sich wiederum eine bestimmte Sozialisation ableitet. Gefühle von Macht und Ohnmacht sind demnach (auch) Ergebnisse von gängigen Täter_in/Opfer-Narrativen, welche die Realität nicht bloß abbilden, sondern sie gleichermaßen schaffen und fortschreiben. Es sei an dieser Stelle noch angemerkt, dass ich nicht daran glaube, dass sich die beiden Positionen Täter_in und Opfer im wirklichen Leben immer so klar voneinander abgrenzen lassen. Nicht selten können diese je nach Kontext variieren.

Dennoch scheint mir, dass bei der medialen Darstellung queerer Menschen in Filmen oder Serien meist immer noch auf die klassische Opfer-Narrative zurückgegriffen wird (was jedoch nicht heißen muss, dass sie der Gewalt ausschließlich hilflos gegenüberstehen). Cisgeschlechtliche Heteros sind in fast allen Fällen die Täter_innen, die queere Menschen ermorden, mobben, körperlich oder verbal angreifen etc. Mir sind so gut wie keine Filme oder Serien bekannt, die dieses Narrativ mal versucht haben auf den Kopf zu stellen. Und ich spreche hier nicht von Mord aus Angst davor, vor seiner Familie oder dem Arbeitgeber zwangsgeoutet zu werden, sondern von 'Cis-Heterofeindlichkeit' oder 'Anti-Queerfeindlichkeit' als Tatmotiv. Entweder scheint den Filmemacher_innen dieser Gedanke schlicht zu abwegig - weil so etwas in der Realität kaum bis gar nicht vorkommt - oder sie meinen, die Zuschauer_innen würden dadurch irritiert. Vielleicht haben sie aber auch die durchaus berechtigte Sorge, dass ihr Machwerk selbst als queerfeindlich eingestuft wird.

Ich habe stark den Eindruck, dass das Thema Queersein in Filmen oder Serien überhaupt nur dann aufgegriffen wird, wenn sich damit an die klassische Opfer-Narrative anknüpfen lässt. Queere Menschen ohne eine problematisierende Darstellung kommen medial praktisch kaum vor. Anders gesagt, der Grund für ihr Auftreten ist gerade die Möglichkeit, mit ihnen Mobbing, Coming Out, Gewalt etc. zu thematisieren. Alles andere ließe sich schließlich auch mit nicht-queeren Charakteren veranschaulichen, zumal diesen ein größeres Identifikationspotenzial zugesprochen wird, was wiederum auch Auswirkungen auf die Verkaufszahlen hat.

Woran die einseitige mediale Darstellung letztlich auch immer liegen mag - Fakt ist, dass queeren Menschen dadurch stets aufs Neue ein Opfer-Status zugeschrieben wird. Dieser kleine Exkurs in die Welt des Films soll veranschaulichen, welche Narrative unsere Sozialisation als queere wie auch als nicht-queere Menschen prägen. Neben fiktiven Geschichten in Filmen und Serien kommen natürlich noch Nachrichten über tatsächliche Gewalt hinzu, was zusätzlich einen ent_stärkenden Beitrag leistet. Wir wachsen also - oftmals ohne es explizit zu benennen - mit dem Wissen auf, dass queere Menschen Opfer und die anderen (potenzielle) Täter_innen sind. Selbstverständlich beschränkt sich dieses Wissen nicht auf das Thema Queersein, wenngleich es hier besonders stark zum Vorschein tritt.

Sicherlich ist dieses Wissen nicht per se schlecht. Es kann dazu führen, dass eine breite Masse für die Probleme queerer Menschen sensibilisiert wird, und uns folglich mit mehr Respekt und Akzeptanz begegnet. Es kann je nach Persönlichkeit aber auch die Überlegenheitsgefühle heteronormativ lebender Personen bzw. die Unterlegenheitsgefühle queerer Menschen bestärken. Viele Menschen brauchen das Gefühl, dass andere Menschen unter ihnen stehen, um sich selbst höherwertig zu fühlen. Queere Menschen erfüllen diesen Zweck hier genauso wie andere scheinbar schwache Minderheiten.

Fazit

Es lässt sich also zusammenfassend festhalten, dass das Gefühl von Schwäche und Ohnmacht ständig neu hergestellt wird. Es fällt ebenso wenig einfach vom Himmel, wie das Gefühl von Macht und Stärke. Es mag bescheiden klingen, aber ich denke, dass es bereits ein großer Vorteil sein kann, diesen Zusammenhang erst einmal zu verstehen. Dennoch halte ich die Möglichkeiten, dem entgegenzuwirken zum gegenwärtigen Zeitpunkt für recht begrenzt. So ist es schwierig - wenn nicht gar unmöglich - den Sozialisationskreislauf zu durchbrechen, wenn Menschen die allgegenwärtige Opfer-Narrative erst einmal verinnerlicht haben und diese in ihrem Handeln ungewollt reproduzieren.

Zwar scheint mir Empowerment hier sicherlich ein gutes Mittel, doch ist die Zahl von Orten, an denen diese stattfinden kann, erstens relativ begrenzt und zweitens sind die Orte oft nicht für alle Menschen gleichermaßen inklusiv. Es bringt mir herzlich wenig, wenn ich zwecks Empowerment z.B. queere Räume aufsuche, dann aber Disempowerment aufgrund meines Alters, meines sozialen Hintergrunds oder auch meines Aussehens erfahre. Natürlich gibt es das Internet zumindest als virtuellen Raum - und ich bin durchaus der Ansicht, er solle nicht unterschätzt werden - doch braucht es meiner Ansicht nach besonders physischen Raum, um im Alltag in seinem Sosein bestehen zu können. Es liegt an uns allen, diese Räume zu schaffen und zu erhalten.


Text von Charlie

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Kommentare: 2
  • #1

    Karl (Mittwoch, 16 September 2015 19:17)

    Danke! Du brichst ein großes Tabu. Denn zusätzlich zu erfahrener Gewalt schämen wir uns auch noch dafür, uns in solchen Situationen immer wieder einschüchtern zu lassen. Deine Analyse macht deutlich, welche Wurzeln die Einschüchterung hat, und Scham nicht angebracht ist.

  • #2

    Charlie (Dienstag, 22 September 2015 20:56)

    @Karl
    Danke dir für deinen Kommentar. Auch mir hilft es zu wissen, dass die Frage, wie stark wir uns einschüchtern lassen, nichts (oder nur relativ wenig) mit persönlicher Schwäche zu tun hat, sondern zum großen Teil gesellschaftlich gemacht ist. Weder sind queere Menschen per se schwächer, noch sind nicht-queere Menschen per se stärker. Jeder andere Mensch, der in seiner Identität genauso mit Disempowerment ent_stärkt wurde, würde vermutlich genauso ohnmächtig auf die Gewalt reagieren. Vielleicht hilft uns dieses Wissen, unsere Scham zu verlieren und die Wurzeln der Einschüchterung nach und nach herauszureißen.

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