Queer Empowerment

Ich lebe in einem Randbezirk Berlins, den einige wohl als 'angenehm ruhig', andere hingegen als 'hoffnungslos spießig' bezeichnen würden. Bislang habe ich als schwuler Mann - bis auf gelegentliche blöde Sprüche - noch keine direkte Ausgrenzung zu spüren bekommen, wenngleich ich im öffentlichen Raum durchaus sichtbar bin. Im Grunde fühle ich mich hier recht wohl. Anders, als in anderen Teilen der Stadt, die gemeinhin als besonders weltoffen und progressiv gelten. Geht es um Berlin als ganzes, habe ich nicht das Gefühl, mich im öffentlichen Raum wirklich frei und selbstverständlich bewegen zu können.

Dabei geht es letztlich gar nicht so sehr darum, ob dieses diffuse Gefühl einer Bedrohung tatsächlich berechtigt ist, sondern allein darum, es nie ganz los zu werden. Es hängt quasi wie ein Damoklesschwert über mir und droht jeden Moment, in dem ich sichtbar werde, herunterzusausen. Ich habe mir Gedanken gemacht, was Empowerment in diesem Zusammenhang für mich bedeutet und wie dies mein Selbstverständnis von queerer Sichtbarkeit beeinflusst.

Vor einiger Zeit kam ich bei einem Gespräch mit einer guten Bekannten auf das eben besagte Bedrohungsgefühl zu sprechen. Sie schien Schwierigkeiten zu haben, meine Gefühle nachzuvollziehen und entgegnete nur lapidar, man könne seine Gefühle für den Partner doch einfach zeigen, wenn einem danach sei - schließlich sei sowas ja nicht verboten. Ich beschloss, nichts weiter dazu zu sagen. Zum einen, weil ich mit einer solchen Antwort nicht gerechnet hatte und - wie es der Berliner sagt - einfach 'baff' war, zum anderen weil ich begriff, dass wir wohl in zwei Paralleluniversen zu leben schienen. Einfach mal so als schwuler Mann mit Partner im öffentlichen Raum sichtbar zu werden, wenn mir 'danach ist' ist ein Luxus, der mir in der Regel leider nicht vergönnt ist. Sobald ich sichtbar werde, bringe ich mich und meinen Partner potenziell in Gefahr. Ich kann damit leben, wenn man mich beleidigt aber wenn jemand meinen Partner - egal ob physisch oder verbal - angreift, kann ich für nichts mehr garantieren. Und ich schreibe es nochmal: Es geht mir überhaupt nicht darum, ob die Ängste gerechtfertigt sind, sondern darum, dass ich diesem Bedrohungsgefühl ausgesetzt bin.

Der öffentliche Raum ist kein Raum, in dem ich mich frei entfalten kann - auch nicht in einer Großstadt wie Berlin. Geht es nur mir so? Wie man an der gegen Null tendierenden Zahl gleichgeschlechtlicher Paare im Stadtbild sehen kann, scheine ich nicht der einige zu sein. Wenn alle wirklich so frei sind, wie sie bei jeder Gelegenheit betonen, wieso bleiben sie dann unsichtbar? Woran liegt es, dass viele den öffentlichen Raum als Raum mangelnder Entfaltungsmöglichkeiten oder gar als Angstraum wahrnehmen?

Mein Eindruck ist, dass es hier häufig nicht unbedingt (nur) um direkte Ausgrenzung geht. Vielmehr scheint heteronormative Dominanz eine Art Eigendynamik hervorzubringen, die dazu führt, dass ein großer Teil queerer Menschen sich nicht mehr selbstverständlich bewegen kann. Wie oft habe ich schon beobachtet, dass schwule Männer mit steigendem Anteil heterosexueller Menschen zunehmend gehemmt sind, ungezwungen miteinander zu flirten, über 'ihre Themen' zu sprechen, oder es gar vorziehen, sich nicht mehr als schwul zu erkennen zugeben. Auch hier geht es gar nicht darum, dass diese heterosexuellen Menschen tatsächlich etwas gegen schwule Männer/queere Menschen haben, sondern dass sie - ohne es zu wollen - eine heteronormative Dominanz in Räume tragen und anderen Menschen damit Entfaltungsfreiraum nehmen. Von einem heterosexuellen Bekannten musste ich mir dies bezüglich mal anhören, es liege ja wohl an schwulen Männern selbst, sichtbar zu werden. Dafür können Heteros doch nichts! Davon abgesehen, dass solche Aussagen eine frappierende Ähnlichkeit mit der oben genannten Aussage meiner Bekannten aufweist, blenden sie die nach wie vor große Diskrepanz in der Sozialisierung aus.

Es hat - nicht zuletzt wegen der Internalisierung solcher heteronormativen Halbwahrheiten - einige Zeit gedauert, bis ich begriff, was mich und möglicherweise auch andere queere Menschen davon abhielt bzw. noch immer abhält, sichtbar(er) zu werden. Viel zu lange habe das Argument 'Eigenverschulden' einfach so hingenommen, ohne das komplexe Zusammenspiel aus (mangelnder) Sichtbarkeit und (fehlendem) Empowerment zu hinterfragen. Was ich heute weiß ist, dass Selbstverständlichkeit hinsichtlich der eigenen Identität einem/einer keinesfalls einfach so mitgegeben ist, sondern durch Empowerment - sprich Bestärkung - erzeugt und fortgeschrieben wird. Während für heteronormative bzw. heterosexuelle, cisgeschlechtliche Menschen im Laufe ihrer Sozialisation eine Vielzahl bestätigender Elemente z.B. in Form von Büchern, Zeitschriften, Filmen, Popsongs aber auch in Form von Erwartungen in der Familie, der Schule oder im öffentlichen Raum bereit steht, herrscht hier für nicht-heteronormative Menschen gähnende Leere.

Im Gegensatz zu beispielsweise ethnischen oder auch religiösen Minderheiten kann Empowerment bei queeren Menschen auch nicht einfach an den Nachwuchs weitergegeben werden, sondern muss von den Betroffenen jedes Mal aufs Neue erkämpft werden. Queere Identifikationsfiguren, die sich direkt an mich als Junge oder Jugendlicher gewandt haben, gab es praktisch nicht. Mein Schwul- bzw. Queersein erfuhr keinerlei Bestätigung, wenngleich ich auch fairerweise betonen muss, dass meine Eltern mir zumindest relativ viel Entfaltungsfreiraum gelassen haben. Dennoch musste ich irgendwie lernen, meine Identität anzunehmen und eine gewisse Selbstverständlichkeit im Umgang mit ihr zu entwickeln. Dies bedeutete eine Menge Arbeit für mich, da ich nun einmal nicht das Glück hatte, mit dem bloßen Schritt aus der Haustür oder dem Einschalten des Fernsehers in meinem So-sein bestärkt zu werden. Im Gegenteil - all das was mich umgab, vermittelte mir unterschwellig, dass ich eben doch nicht 'normal' bin. Anders als die meisten meiner Mitmenschen, musste ich mir die Räume aktiv suchen, an denen ich Empowerment erfuhr. Dabei lernte ich nach und nach, dass heteronormative Räume bei der Suche nach Empowerment für mich eher schädlich als nützlich waren. Das Wichtigste, was ich jedoch begriff war, dass das gefühlte Recht auf Sichtbarkeit im öffentlichen Raum eng mit dem Empowerment zusammenhing, die eigene Identität als selbstverständlich wahrnehmen zu können.

Auch heute, wo ich mir ein gewisses Selbstverständnis erarbeiten konnte, bleiben Einschränkungen hinsichtlich der Lebensqualität - wie das oben beschriebene diffuse Bedrohungsgefühl - weiter bestehen, weil ich wie die meisten Menschen gezwungen bin, mich in weitgehend heteronormativen Kontexten zu bewegen. Die wenigen queeren Menschen, die mir dort begegnen, scheinen aus Mangel an Alternativen das Gefühl defizitär zu sein - welches die heteronormative Sozialisierung bei ihnen hinterlassen hat - so stark verinnerlicht zu haben, dass es teilweise in Selbstverachtung umschlägt. So wenig es mich verwundern sollte, so erschreckt es mich doch stets auf neue, wenn mir schwule Männer erklären wollen, weshalb die 'Hetero-Ehe' doch bitte gegenüber der 'Homo-Ehe' privilegiert bleiben sollte, oder weshalb Regenbogenfamilien gegenüber 'traditionellen Mutter-Vater-Kind-Modellen' minderwertig sind.

Empowerment ist für die Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit von unschätzbarem Wert. Es kann und sollte dabei helfen, ein Mensch zu werden, der selbstbewusst für seine Interessen eintritt. Ein Mensch, der es wagt, den heteronormativen Anspruch auf öffentliche Raumeinnahme zu durchkreuzen, um sich auch als queerer Mensch frei und selbstverständlich darin bewegen zu können. Permanentes Ausweichen, Unsichtbarkeit und Konfliktscheue sind u.a. Folgen mangelnden Empowerments. Ich bin daher der Ansicht, dass es - jenseits virtueller und kommerzieller Begegnungsorte - mehr an Entfaltungsräumen braucht, in denen unsere Potenziale gefördert werden, und an denen wir alle in unserem So-sein angenommen werden. Mehr queere Räume, die uns empowern und die uns ein Erleben von Gemeinschaft ermöglichen, bei der unsere Identität nicht durch explizite Nennung oder absichtliches Verschweigen als 'etwas anderes' herausgestellt, sondern selbstverständlich vorausgesetzt wird. Was ich mir wünsche, sind Räume, in der die heteronormative Erwartungsdominanz, wie ein Mensch zu sein hat - wenn schon nicht komplett abgeschafft - so doch wenigstens abgemildert wird. Ich hoffe, mit QueerGeist e.V. dazu beitragen zu können, dass mehr solcher Räume entstehen.

 

Text von Charlie

 

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Kommentare: 2
  • #1

    Chris (Dienstag, 10 Juni 2014 12:13)

    WOW, echt super der Text! Er spricht mir aus der seele und hat mir mal wieder die Augen geöffnet. Wir sollten als Community stärker zusammenrücken und uns gegenseitig empowern. Euch alles Gute und macht weiter so!!

  • #2

    Charlie (Mittwoch, 11 Juni 2014 01:14)

    @Chris
    Schön, wenn ich dich damit zum Nachdenken anregen konnte. Ich wünsche mir ebenfalls eine starke Community, die sich gegenseitig empowert. Weitermachen werden wir bestimmt, gerade auch wegen des positiven Feedbacks von Menschen wie dir!

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