Queering und die Macht der Irritation

Irritation beunruhigt. Sie stellt scheinbare Selbstverständlichkeiten in Frage, zwingt uns zu einer Auseinandersetzung mit dem, was wir zu wissen glauben. Sie springt uns unvorbereitet an und stößt uns auf Wahrheiten, deren Existenz uns bislang verborgen war. Irritation offenbart Bruchstellen, wo wir niemals welche vermutet haben. Sie legt die Brüchigkeit der Norm frei und erlauben für einen kurzen Moment den Blick hinter den Vorhang. Diese Blicke verstören uns, ängstigen uns, lösen Unbehagen aus. Wir versuchen sie zu verdrängen, zu vergessen, in das bestehende Bild von der Welt zu integrieren.

Wenn sich die Irritation nicht wiederholt, mag uns dies gelingen. Dann schütteln wir heute vielleicht verwundert den Kopf, können uns aber morgen schon nicht mehr daran erinnern. Nur was geschieht, wenn sie sich wiederholt? Immer und immer wieder. In einem solchen Fall ist es nicht mehr mit einfachem Verdrängen getan. Jede erneute Irritation wird uns an Vergangene erinnern. Irgendwann werden wir uns womöglich fragen, ob die Vorannahmen richtig waren, ob unser Verständnis von Normalität falsch war. Das ist der Moment, in dem die Brüche die Norm durchlässig(er) haben werden lassen. Wie eine große Mauer, aus der immer wieder Steine herausgezogen wurden.

Warum ist das Wissen um Irritation wichtig?

Für uns als queere Menschen scheint mir dieses Wissen um Irritation und seine Wirkmächtigkeit von zentraler Bedeutung. Alle von uns, die schon einmal das Gefühl hatten, sämtliche Augen sind auf sie gerichtet, sobald sie in ihrem Sosein sichtbar werden, können ein Lied davon singen: Abweichungen von Heteronormativität fallen vielerorts immer noch stark auf. Sei es die trans Person, deren Geschlechtsausdruck nicht mit landläufigen Leseweisen ihres Körpers übereinstimmt, oder das gleichgeschlechtliche* Paar, das Hand-in-Hand durch die Stadt läuft. Auch wenn es bestimmt Menschen gibt, die das allgegenwärtige Starren nicht stört, habe ich doch den Eindruck, dass es vielen eher unangenehmen ist. Ein mir sehr nahe stehender Mensch meinte einmal, er fühle sich in solchen Situationen 'exponiert' und 'nackt', weshalb er es vorziehe, lieber unsichtbar zu bleiben.

Potenzial für gesellschaftliche Veränderungen

So nachvollziehbar ich diese Sichtweise auch finde, bietet das Starren auch einen Anlass für eine interessante Frage: Welches Potenzial für gesellschaftliche Veränderungen verbirgt sich dahinter? Zugegeben, die Frage mag erst einmal seltsam anmuten. Wie kann Starren ein solches Potenzial offenlegen, wo wir doch gewohnt sind, es überwiegend mit negativen Gefühlen zu verbinden? An dieser Stelle komme ich wieder auf den Anfang des Textes zurück, und zwar die Irritation. Als einen Ausdruck eben dieser verstehe ich Starren nämlich in erster Linie. Natürlich möchte ich damit ausdrücklich niemandem* absprechen, es auch weiterhin als unangenehm zu empfinden. Mir geht es bis zu einem gewissen Grad nicht anders, nur sehe ich gleichzeitig das enorme Potenzial dahinter.

Dieses bedeutet meiner Ansicht nach vor allem gesteigerte Aufmerksamkeit. Und nein, es geht mir hierbei nicht um bloße Selbstdarstellung. Die innere Rampensau darf sich getrost wieder schlafen legen. Vielmehr möchte ich uns damit vor Augen führen, was eine solch gesteigerte Aufmerksamkeit für enorme Chancen bietet. Wenn es derart einfach ist, als queerer Mensch Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, was heißt das folglich für heteronormativitätskritische Ansätze in der Alltagspraxis?

Irritation und Queering

Bereits im Dezember 2015 habe ich geschrieben, dass eine queere Lebensweise nach meiner Auffassung weniger eine Frage des passiven Seins im Sinne eines identitätsstiftenden Labels - wie inter, trans, bi, lesbisch, schwul etc. - ist, als vielmehr eine des aktiven Tuns. Als integralen Bestandteil dieses Tuns sehe ich die Praxis des Queering. Darunter fallen für mich sämtliche (bewusste) Handlungen, in denen Menschen heteronormative Gesellschafts-verhältnisse mithilfe von Irritation durcheinanderbringen und somit letztlich flexibler machen. Sozusagen das Stiften von Verwirrung als politisches Instrument für gesellschaftliche Veränderungen. Einen Denkprozess in Gang bringen, und damit genau das tun, wovor sich heterosexistische bzw. queerfeindliche Menschen am meisten fürchten.

Doch was für Chancen bietet uns nun die einfache Möglichkeit der Irritation mit ihrer gesteigerten Aufmerksamkeit? Um es kurz zu machen, je dichter das heteronormative Netz geknüpft ist, desto mehr Gelegenheiten der Irritation scheint es zu geben. Der Alltag liefert hier eine schier endlose Fülle von Möglichkeiten. Ich habe im Folgenden versucht, ein paar von ihnen aufzulisten. Bestimmte Bereiche wie Sprache oder virtuelle Räume habe ich dabei aus Platzgründen ausgespart, um mich vor allem auf Handlungen zu fokussieren, die öffentliche Räume betreffen. Wem noch Ergänzungen einfallen, die_der kann sie gerne in die Kommentarspalte schreiben.

1) Irritationsspielplatz: Vertauschen

Ein großer Teil des öffentlichen Raums ist binärgeschlechtlich nach Frauen und Männern getrennt: Toiletten, Umkleideräume oder auch bestimmte Kaufhausabteilungen und Geschäfte. Sie alle eignen sich hervorragend als queere Irritationsspielplätze. Es braucht eigentlich nicht viel Fantasie, um die Möglichkeiten zu erkennen, die sich hier bieten: Kurze Röcke am Kleiderbügel zwischen den Männerhosen, geblümte Blusen inmitten der weißen Männerhemden, Krawatten für die Geschäftsfrau, weite Boxershorts neben Dessous, rosa High Heels neben Sportschuhen in Größe 45, 'Cosmopolitan' zwischen der 'Men's Health', Barbiepuppen im 'Nur-für-Jungs-Regal', Actionfiguren und Fußball 'nur für Mädchen', Herrenrasierer und Aftershave für die (bärtige) Frau von heute, süße Parfums für süße Männer oder Damen-WCs mit Pinkelbecken. Irritation at its best. Die Liste ließe sich wohl noch ewig weiterführen.

2) Irritationsspielplatz: Street Art

Ein anderer Irritationsspielplatz sind öffentliche Räume, in denen nicht allein zu Männern und Frauen mit entsprechend heteronormativen Vorannahmen gesprochen wird, sondern auch über sie. Ich denke hier an Plakate, Werbetafeln, etc. Wer Spaß daran hat und keine Risiken scheut, kann sich hier herrlich austoben, sprühen, taggen, Worte überkleben, übermalen, hinzufügen und damit die Aussage umdeuten. Gute Beispiele für gelungene Street Art gibt es einige. Dabei sollte sich keine_r unter Druck gesetzt fühlen. Wichtig ist allein, dass es Spaß macht. Und auch kleine Dinge wie z.B. Sticker schaffen - passend positioniert - Aufmerksamkeit. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass sich Sticker mit einem Drucker und der passenden Klebefolie ausgezeichnet selbst herstellen lassen. Da muss noch nicht mal ein Copyshop ran.

3) Irritationsspielplatz: Visibility-Group

Der dritte und letzte Irritationsspielplatz, auf den ich eingehen möchte, bezieht sich direkt auf die Sichtbarwerdung von queeren Menschen. Wie auch in den beiden vorangegangenen Beispielen, geht es hier besonders um die Einnahme und Umdeutung von heteronormativen Räumen. Vorgegangen wird dabei nach der Bienenschwarm-Methode: Eine Minderheit überflutet bestimmte öffentliche Orte und stellt dadurch die Mehrheitsverhältnisse bewusst auf den Kopf. Die wohl bekanntesten Formen sind Demonstrationen, Flashmobs, Kiss-Ins etc.

Sie alle halte ich für eine geeignete Form queeren Protests, doch ihnen fehlt etwas Entscheidendes: Nachdruck durch Wiederholung. Entweder finden sie nur einmal jährlich als Großevent statt, bei dem der Irritationsfaktor nahezu komplett verloren geht, weil die Konfrontierten vorher bereits wissen, was sie erwartet, oder aber sie finden als einmalige Protestaktion statt. Bei Ersterem kommt der Denkprozess also gar nicht erst in Gang, und bei Letzterem kann er sich nicht festigen.

Ich denke, es sind weit weniger spektakuläre aber deshalb nicht minder wirkungsvolle Irritationsformen im Alltag möglich. Auch hier braucht es im Grunde nicht viel Vorstellungskraft: Lokale Visibility-Groups, die auf Absprache zu einer bestimmten Zeit mehrmals im Jahr ganz selbstverständlich öffentliche Orte wie Cafés, Straßen oder sogar ganze Kieze einnehmen. Scharen von trans Personen, die nach Herzenslust in den Bekleidungsabteilungen stöbern, knutschende gleichgeschlechtliche Paare, die überall auf den Straßen flanieren, während 'besorgte Eltern' nicht wissen, wie sie das ihrem fragenden Nachwuchs beibringen sollen. Ein Bild für die Gött_innen.

Zudem bin ich der Meinung, dass solche Gruppen nicht mal besonders groß sein müssten. Wie oben beschrieben, kommt uns dabei die gesteigerte Aufmerksamkeit aufgrund des Bruchs mit den Sehgewohnheiten zu Gute. Auf diese Weise richtet sich die heteronormative Dominanz letztlich gegen sich selbst. Eine Art queerer Hataki-komi also. Hinzu kommt noch, dass wir heute über Kommunikationsmittel verfügen, die uns ganz neue Möglichkeiten im Bereich des Queering aufzeigen.

Ich frage mich daher, ob es nicht an der Zeit ist, neben den 'klassischen' Demonstrationen neue Formen geballter queerer Sichtbarkeit zu entwickeln. Gesehen und gehört zu werden muss heute nicht mehr bedeuten, mit Transparenten in der Hand Wind und Wetter zu trotzen und bis zur Heiserkeit irgendwelche Parolen zu rufen. Es kann so viel mehr sein. Queering kann Spaß machen, uns empowern, kann kreativ und verspielt sein, und gleichzeitig wichtige Denkprozesse in Gang setzen. Irritation als Motor für gesellschaftliche Veränderungen. Bist du dabei?

 

Text von Charlie

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Kommentare: 2
  • #1

    fink (Dienstag, 09 Februar 2016 15:14)

    Hi Charlie, ich freue mich jedesmal, wenn ein neuer Text von dir in meinem Feedreader auftaucht; danke auch für diesen hier.

    Ich denke, die wirksamste und nachhaltigste "Irritation" von allen bleibt weiterhin die banale Sichtbarkeit unserer ganz selbstverständlichen queeren Existenz im Alltag: privat, im Beruf, im öffentlichen Raum. Ärgerlich genug, dass man feststellen muss, dass dies tatsächlich immer noch eine Irritation für so viele Menschen ist. Und ebenso ärgerlich, dass wir an dieser scheinbar so einfachen Aufgabe doch so oft scheitern. Ich nehme mich selber da nicht aus. Auch ich gehöre zu den Menschen, denen das Starren oft so auf die Nerven geht, dass ich es zulasse, dass es meine Freiheit einschränkt. Ich ärgere mich über mich selbst und über die Gesellschaft, aber ich habe einfach nicht immer genügend Energie, mich gegen einen Dauerbeschuss an Mikroaggressionen zu wappnen.

    Die spaßbetonten Optionen, die du hier anregst, können da als ein schöner Ausgleich dienen. Die Energie des Ärgers umleiten in gemeinsame, lustige Events oder in kreative Einzelaktionen. Wir sollten solche stärkenden Aktionen viel öfter nicht nur träumen, sondern umsetzen!

    Mir fällt eine Anekdote zu deinen Beispielen ein. Die Universität meiner Stadt verfügte vor einiger Zeit, alle Uni-eigenen Toiletten geschlechtergetrennt zu markieren. Eine Freundin von mir sollte die Toiletten ihres Fachbereiches kennzeichnen. Dort gibt es nur einen einzigen Raum mit drei Kabinen, die bisher einfach alle Studierenden nach Lust und Laune benutzt hatten. Im Grunde gab es dort weder ein reales Problem zu lösen noch war es möglich, drei Kabinen gerecht zwei Geschlechtern zuzuordnen. Ihre Lösung: Sie nahm einen zufällig herumliegenden Aufkleber mit einem abstrakten mehrteiligen Logo, zerschnitt dieses Logo in einen Kreis, ein Quadrat und ein Dreieck und kleibte jeweils eine der Figuren auf eine Kabinentür.

    Deine Idee mit den selbstgemachten Aufklebern ging mir auch schon mal durch den Kopf. Da würde ich gern mal etwas selbst entwickeln. Was für Papier verwendest du denn da?

  • #2

    Charlie (Dienstag, 09 Februar 2016 22:07)

    @fink
    Und ich freue mich jedes Mal, wenn unter meinen Texten ein Kommentar von dir auftaucht. Danke dafür.

    Du schneidest einen wichtigen Punkt an, den ich zugegebenermaßen absichtlich ausgespart habe: Die selbstverständliche Sichtbarkeit queerer Menschen im Alltag. Dass sie oftmals eine Irritation bedeutet, sehe ich auch so. Und ja, das Starren nervt und verunsichert ungemein. Es ist absolut nachvollziehbar, dass man* sich dem Kugelhagel an Mikroaggressionen nicht ständig aussetzen kann und will.

    Ob ich sie jedoch mit Queering in Verbindung bringen würde, darüber bin ich mir nicht so sicher. Wenn ich beispielsweise Hand in Hand mit meinem Partner spazieren gehe, tue ich das nicht, weil ich bewusst irritieren möchte. Ich genieße einfach seine Nähe und möchte zeigen, dass wir zusammen sind. Natürlich ist das für uns nicht so einfach, und ich bin mir völlig bewusst darüber, dass ich nicht jedem Impuls von Zärtlichkeit intuitiv folgen kann wie ein verschiedengeschlechtlich gelesenes Paar, ohne mich Gefahren auszusetzen. Es ist nie so ganz frei und ungezwungen, immer gibt es da eine warnende Stimme im Kopf.

    Ich hatte in meinem Leben aber auch Phasen, in denen ich genau aus diesem Grund als schwuler Mann sichtbar wurde: Um andere zu irritieren. Und ehrlich gesagt, hat mir das teils auch Spaß gemacht, wenngleich es irgendwie anstrengend war, immer mit hochgezogenen Brandmauern herumzulaufen... Dennoch war das, was ich da tat, wohl tatsächlich Queering im Sinne eines bewussten Irritierens. Später habe ich dann aber für mich festgestellt, dass sich die Motivation dahinter falsch anfühlt. Diese Art sichtbar zu werden, stellte die Irritation dermaßen in den Mittelpunkt, dass das was uns beide wirklich verband, zur Nebensache wurde. Es war ein wenig so, als ob ich meinen Partner für politische Ziele instrumentalisierte, und das fühlte sich einfach nicht richtig an. Ich bin mir daher nicht ganz sicher, ob für mich persönlich diese selbstverständliche Sichtbarkeit im Alltag als Queering wirklich in Frage kommt, obwohl sie zweifellos irritiert.

    Was du zu den spaßbetonten Optionen schreibst, sehe ich ganz genauso. Solche Aktionen geben mir stets das Gefühl zurück, der eigenen Marginalisierung aktiv etwas entgegensetzen zu können, mir öffentlichen Raum zurückzuholen. Das hat etwas wunderbar Befreiendes und Empowerndes. Die Art und Weise, für welchen Irritationsspielplatz man* sich entscheidet, hängt dabei vermutlich davon ab, wie viel Geld, Zeit, Energie und Mitstreiter_innen man* hat. Dein Beispiel von den Uni-Toiletten finde ich schon mal ziemlich klasse. Genau das verstehe ich unter gelungenen Aktionen.

    Wieso bislang nur so wenige Menschen davon Gebrauch machen, weiß ich nicht. Die Umsetzung kann so einfach sein, und der Effekt ist so groß. Vielleicht sind es in Wirklichkeit aber auch vielmehr Leute, nur dass sie sich noch nicht ausreichend vernetzt haben, und ihre Aktionen daher nicht den Bekanntheitsgrad erreichen, den sie verdient hätten. Ich werde jedenfalls am Ball bleiben und die Idee weiter verfolgen. Wenn du Ideen für eigene Aktionen hast, würde ich mich sehr freuen davon zu hören.

    Beste Grüße,
    Charlie

    PS: Für die Sticker habe ich damals einfach bedruckbare weiße Etiketten mit durchsichtiger Klebefolie verwendet. Sicher nicht die eleganteste Art, aber dafür günstig. Es gibt inzwischen sicherlich auch so etwas wie bedruckbares Stickerpapier...

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