Schwuler werden - statt schwul oder hetero sein

Die Etikettierung, schwul zu sein (oder lesbisch, oder bi etc.), gilt als gesellschaftlicher Fortschritt. Wir tun nichts Unanständiges, wenn wir Männer lieben, denn nach dieser Sichtweise tun wir es, weil wir schwul sind. Schwule Identität ist demnach die Ursache der sexuellen Orientierung; schwule Identität ist die Eintrittskarte für die Zugehörigkeit zu einer anerkannten gesellschaftlichen Minderheit. Das schwule Coming Out gilt als Prozess der Selbsterkenntnis und Selbstfindung, zunächst schmerzlich, schlussendlich erlösend und befreiend: es ist alles in Ordnung mit mir, weil ich, anders als die Mehrheit, schwul bin. Als Krönung dieser Identitäts-Sicherheit gilt vielen der Nachweis einer genetischen Verursachung der Homosexualität.

Warum dieses intensive Bedürfnis nach einer festgelegten schwulen Identität? Weil Homosexualität gesellschaftlich angefeindet wird, als Sünde, als etwas Widernatürliches, als Abweichung von der Norm. Wer sich dafür entscheidet, zu sündigen oder von der Norm abzuweichen, ist dafür verantwortlich. Wer aber Männer liebt, weil er schwul ist, kann nicht anders und kann dafür nicht verantwortlich gemacht werden. So gesehen wäre das Beharren auf einer Identität des Schwulseins die Weigerung, für die eigenen sexuellen Leidenschaften Verantwortung zu übernehmen. Vielleicht auch die Unfähigkeit, auf die eigene Sexualität stolz zu sein; möglicherweise ist die Selbstdarstellung als „gay pride“ nur die hilflose Bemäntelung einer nicht aufgelösten Scham.

Im Grunde bestätigt und besiegelt das identitäre Schwulsein die Ablehnung dieser Widernatürlichkeit. Das Bekennen der eigenen schwulen Identität ist eine Bitte um Entschuldigung bei der homophoben Mehrheit: Wir können ja nichts dafür. Aber diese Appeasement-Strategie wird nicht aufgehen. Schwulenhasser, religiöse Hardliner und Traditionalisten aller Art werden sich durch Bekenntnisse des Schwulseins, auch durch den Nachweis einer biologischen Ursache von Homosexualität nicht besänftigen lassen. An der moralischen Argumentation führt kein Weg vorbei: Wenn zwei Menschen in Freiheit sich zueinander hingezogen fühlen und sexuelle Zärtlichkeiten starten und zulassen, so gibt es dagegen nichts einzuwenden. Homosexualität bedarf keiner Rechtfertigung.

Die Schubladen homo und hetero passen nur ungenau zur Realität, und sie sind hinderlich bei der freien Entfaltung der sexuellen Leidenschaften, die eben oft nicht einfach nur homo oder hetero sind. Bereits die Kinsey-Skala zeigte uns (und dies vor über einem halben Jahrhundert in einem vom Christentum dominierten und eher prüden Nordamerika), dass sich die wenigsten Menschen bei 100 Prozent hetero oder bei 100 Prozent homo einordneten, sondern die meisten irgendwo dazwischen, z.B. bei 80 Prozent hetero. Das lässt hoffen. Die Menschen haben vielfältige Leidenschaften und Neigungen, die gleich bleiben oder sich ändern können. Insbesondere die persönlichen sexuellen Minderheiten, die „Partialtriebe“, von denen Sigmund Freud spricht, gilt es, mit Neugier und Toleranz zu entdecken und zu kultivieren. In diesem Sinne ist homosexuelle Propaganda möglich, sie kann und sie sollte erfolgreich sein. Ebenso sexuelle Verführung. Es wird sich herumsprechen, dass es – mehr oder weniger – möglich ist, sexuelles Begehren zu erlernen, vielleicht nur in geringem Umfang, aber diese kleinen Horizonterweiterungen sind es gerade, auf die es ankommt. Homophobie ist heilbar. Homosexualität heilen zu wollen dagegen ist unnötig, lieblos und dumm.

Doch auch das Hetero-Sein ist eine Norm, die unsinnige Beschränkungen impliziert, eine Identitätsfestlegung, die von der Realität widerlegt wird. Leidenschaftliche Männerfreundschaften allerorten – die Ambivalenz ist oft mit Händen zu greifen. Das homosexuelle Interesse ist da, die Männer sind besessen voneinander, können gar nicht genug kriegen voneinander, wollen aber auf keinen Fall „schwul“ sein. Hier geht es um eine Umwertung der Werte: zärtlicher zu sein als bisher gewohnt ist liebevoll und mutig und deshalb gut.

Das Erleben von Homosexualität ist besser als die homophobe Gewohnheit, alles, was einem „zu schwul“ erscheint, wegzudrängen und verächtlich zu machen. Viele Männer finden sich schon deshalb in Ordnung, weil sie zumindest nicht schwul sind – wie arm ist das denn! Soziale Kompetenz hieße, aus der Besessenheit der Männer von einander etwas Gutes entstehen zu lassen. Erotisch erfüllende Freundschaften und nicht nur verdruckst auftrumpfendes Männergehabe, nicht nur verklemmte Betulichkeit. Es geht nicht um die Umerziehung der Männer zu „Schwulen“, es geht um den Mut, Neuland zu betreten, Leidenschaften zu entfalten und zu kultivieren, die sowieso im Raum sind. In einer toleranten und freien Gesellschaft wäre es normal, dass alle Menschen – mehr oder weniger – Männer und Frauen lieben können, mehr oder weniger bisexuell leben und fühlen können.

 

Text von Robert

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Kommentare: 5
  • #1

    Charlie (Dienstag, 30 Dezember 2014 22:29)

    @Robert
    Erst mal ganz herzlichen Dank für diesen interessanten Gastbeitrag! Ich habe mir zum Thema schwule Identität Gedanken gemacht, kam teilweise jedoch zu etwas anderen Ergebnissen:

    Ich denke auch, dass das Beharren auf schwule Identität ein Freisprechen von Schuld bewirken sollte. Karl Heinrich Ulrichs Konzept des 'Urnings' Ende des 19. Jh. hatte nicht nur sexualmedizinische, sondern auch politische Bedeutung. Es sollte Männer, die wegen gleichgeschlechtlichen Kontaktes vom Gesetz bedroht wurden, aus der Kriminalisierung herausholen. So gesehen, war es wohl tatsächlich eine Art Entschuldigung. Die 'Appeasement-Strategie' scheint meiner Ansicht nach aber durchaus aufgegangen zu sein, denn die Kriminalisierung nach §175 wurde - zumindest in Deutschland - tatsächlich beendet und eine zunehmende rechtliche Anerkennung setzt sich durch. Ich denke nicht, dass sich diese Veränderungen ohne den Rückgriff auf eine feste Identität hätten durchsetzen lassen. Natürlich ist es anzuzweifeln, ob sich ein hartnäckiger gesellschaftlicher Bodensatz von Schwulenfeindlichkeit damit angehen lässt. Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer - Männer hassen, die Männer begehren, werden sich weder von biologischen Erklärungen noch moralischen Argumenten überzeugen lassen. Du schreibst, dass an der moralischen Argumentation kein Weg dran vorbei führt, merkst dann aber an, dass Homosexualität keiner Rechtfertigung bedarf. Solange wir jedoch zu Rechtfertigung gezwungen werden, weil wir - ob es uns nun passt oder nicht - von unserem Umfeld mit heteronormativen Erwartungen regelrecht bombardiert werden, ist schon die Aussage, sich nicht dafür zu rechtfertigen, eine Art Rechtfertigung. Wie will man z.B. erreichen, dass in den deutschen Schulen endlich flächendeckend über Homo- Bi- und Transsexualität aufgeklärt wird, wenn du nicht klar machst, weshalb es wichtig ist? Und schwupp, sind wir wieder beim Rechtfertigen. Solange der Status Quo noch dermaßen zu unseren Ungunsten ist, bleibt uns leider kaum etwas anderes übrig, als zu erklären, weshalb sich etwas ändern muss. Die Aussage, sich nicht zu rechtfertigen, können wir uns meiner Meinung nach erst dann leisten, wenn wir endlich im Besitz voller Bürgerrechte sind (was bislang nicht der Fall ist).

    Ich stimme dir zu, dass es sowohl unter Homosexuellen als auch Heterosexuellen vermutlich einen nicht geringen Teil versteckter Bisexueller oder sogar Pansexueller gibt. Es wäre sehr zu begrüßen, dass diese keine Angst mehr haben müssen, ihre Bi- bzw. Pansexualität zu erkunden und zu leben. Zwar gehst du im Text nur auf sich als heterosexuell definierende Männer ein, doch ich gehe mal davon aus, dass du umgekehrt auch solche Männer, ansprichst, die sich als schwul bezeichnen. Oder verstehe ich dich hier falsch? Wenn ja, ist das die Stelle im Text, die mir etwas Schwierigkeiten bereitet. Denn ich kann auch schwule Männer/lesbische Frauen gut verstehen, die ihr Begehren permanent gegen aggressiv-heterosexistische Angriffe verteidigen müssen und in Sprüchen wie 'Als Lesbe weißt du nie, ob du dich nicht doch mal in einen Mann verliebst' oder 'Als Mann sollte man mal mit einer Frau geschlafen haben' ein gewaltsames Zurückholen in die Heteronorm sehen. Von daher können Forderungen nach Entdeckung verschiedengeschlechtlicher Sexualität - anders als bei heterosexuellen Menschen - etwas extrem Triggerndes haben. Ich wäre daher sehr vorsichtig, von wem ich ein solches Entdecken fordere; homo- und heterosexuelle (Cis-)Menschen machen hier einfach völlig andere Erfahrungen...

  • #2

    Robert Ulmer (Samstag, 03 Januar 2015 14:28)

    @ Charlie
    Danke für deinen Kommentar!

    Es stimmt, dass alle, die sich sexuell nicht normkonform verhalten, dazu genötigt und gedrängt werden, dies zu rechtfertigen. Nun ist die Frage, wie diesem Rechtfertigungsdruck am besten zu begegnen ist. Die gängige Variante ist: ich verhalte mich so, weil ich so BIN; und dass ich so bin, dafür kann ich nichts, ich habe mich nicht dazu entschieden. Mein Punkt ist, dass ich diese Rechtfertigungs-Variante für unwürdig halte – mal ganz abgesehen von der Frage, wie erfolgreich sie politisch war und wie erfolgreich sie politisch in Zukunft sein könnte (in Russland, Uganda, etc. pp.). Denn sie suggeriert unterschwellig: Ihr habt ja Recht, meine abweichende Sexualität zu ächten, aber ich kann nicht anders, weil ich nun mal schwul bin. Das ist Appeasement, das ist Wegducken.

    Viel würdevoller und übrigens auch intellektuell viel spannender sind moralische Argumente. Liebe ist besser als Lieblosigkeit. Liebe erleben ist besser als auf Liebe verzichten. Oder, abgeleitet von den Freiheitsrechten: was zwei Menschen in Freiheit miteinander tun, ist nicht zu beanstanden. Oder, spieltheoretisch: Liebe und Sexualität, ein Paradebeispiel für eine Win-Win-Konstellation.
    Noch weiter geht die psychoanalytische Vermutung, dass die heftige emotionale Ablehnung von Homosexualität eine verdrängte homosexuelle Neugier beinhaltet. Und auch hieraus ließe sich eine moralische Position ableiten: es ist besser, emotional mutig zu sein und homosexuelle Erfahrungen zu riskieren (oder zumindest homosexuelle Phantasien), als feige und verklemmt zu bleiben und die Homos zu hassen – und sich dabei rein und unbeschmutzt zu fühlen.
    Ist das alles nicht viel interessanter als das Pochen auf mein angebliches Anders-Sein als „Schwuler“? Mir geht es darum, den Verfechtern der Hetero-Norm eine Haltung der Toleranz abzunötigen und nicht nur milde Nachsicht gegenüber einer angeblich anderen Menschensorte.

    Uneingeschränkt zustimmen möchte ich deinem Punkt, dass die Befürwortung von Bisexualität aus Sicht von homosexuell lebenden Menschen als rückschrittlicher Versuch verstanden werden muss, sie in die Hetero-Norm zurückzuholen. Also wenn Männer liebende Männer sich anhören müssen, ob sie es nicht doch auch mal mit einer Frau versuchen wollen. Oder wenn Frauen liebende Frauen zu hören bekommen, dass zu ihrem Glück im Grunde doch nur ein Mann fehlt, der es ihnen mal so richtig besorgt. Nein, mein Appell zu etwas mehr Bisexualität richtet sich an all diejenigen, die in der Hetero-Norm feststecken, und dies mehr als ihnen gut tut. Und spricht nicht manches dafür, dass dieser Appell dann erfolgreicher sein wird, wenn er von dieser Bekenntnis-Nötigung ablässt, wenn er darauf verzichtet, die Abweichler unbedingt in eine – schwule oder bisexuelle oder welche auch immer – Schublade zu stecken? Ich will eine freie Welt, in der die Menschen leidenschaftlich damit beschäftigt sind, sich gegenseitig glücklich zu machen und in der sie nicht vorrangig mit der Frage belastet sind, in welchem Gehege im großen Identitäten-Zoo sie sich zu verorten haben.

  • #3

    Charlie (Sonntag, 04 Januar 2015 23:35)

    @Robert
    Vielleicht verhalte ich mich aber so schwul wie ich bin, einfach weil ich es BIN. Wenn ich Schwulsein als naturgegeben (also NICHT erlernt) verstehe, halte ich den argumentativen Rückgriff auf diese naturgegebene Identität weder für unwürdig, noch für verkehrt. Wenn mich jemand aufgrund meiner roten Haarfarbe diskriminiert, würde ich vermutlich genauso wenig argumentieren, jede_r habe das Recht darauf, seine Haarfarbe - egal ob rot, braun, schwarz, blond etc. - in der Öffentlichkeit zur Schau zu tragen (was natürlich trotzdem stimmt), sondern ich würde wohl eher argumentieren, dass ich die Haare so in der Öffentlichkeit trage, weil ich ganz einfach rothaarig BIN. Das heißt für mich aber nicht, dass ich meine roten Haare deshalb nicht trotzdem schön finde oder mit anderen Menschen tauschen möchte. Von mangelnder Würde, würde ich hier also nicht sprechen.

    In Bezug aufs Schwulsein heißt das für mich, folgendermaßen zu argumentieren: 'Ich BIN schwul, habe es mir nicht ausgesucht, doch wenn ich es mir aussuchen könnte, würde ich es aus den und den Gründen tun...' Dass eine moralische Argumentation intellektuell spannender ist, möchte ich nicht abstreiten. Ob sie schwulenfeindliche Betonköpfe überzeugen kann, wage ich jedoch stark zu bezweifeln. Eher sehe ich die Gefahr, dass damit der Aspekt, dass mein Schwulsein naturgegeben und damit unabänderlich ist, außer Acht gerät. Umpolungsangeboten wie 'Wüstenstrom', die gleichgeschlechtliche Liebe verachten und ihre Existenz in Frage stellen, sind so Tür und Tor geöffnet. 'Konversionstherapien' sind immer noch üblich in Deutschland, auch in 'offenen' Großstädten wie Berlin. Und wir sollten nicht so naiv sein zu glauben, dass der Großteil der Menschen - u.a. auch innerhalb der deutschen Regierung - diesen Angeboten wirklich kritisch gegenübersteht bzw. sie nicht doch insgeheim befürwortet.
    Dennoch sehe ich eine moralische Argumentation, wie du sie beschreibst, als Ergänzung zum Argument der Naturgegebenheit durchaus als bereichernd an.

  • #4

    Lars (Montag, 26 Januar 2015 20:58)

    Es gibt verschiedene Formen von Glück. seine sexuelle Bestimmung erfüllen durch aufrichtig gelebte Sexualität, Zärtlichkeit, egal, zwischen welchen Geschlechtern ist eine Form von Glück. Nachkommen zu zeugen, sie zu erziehen, in ihnen eine Form des geistigen und genetischen Fortlebens zu erleben und zu "begreifen" ist auch eine Form von Glück. "Nur" durch seine Taten und Interaktionen in anderen Menschen weiterzuleben, ist auch eine Form von Glück. Es braucht alle diese drei Formen von Glück. Keins ist in sich vollkommen. Selten kommen alle drei Formen in einem Menschenleben zusammen. Und trotzdem: Mehr als glücklich sein, kann man nicht.

  • #5

    Robert (Freitag, 27 März 2015 11:42)

    Nachtrag: Der Sexualwissenschaftler Gunter Schmidt "setzt sich (mit dem) gesellschaftlichen Gebot der "Monosexualität" (kritisch) auseinander, die davon ausgeht, die Sexuelle Orientierung sei ein tief in der Persönlichkeit verwurzelter und lebenslang wirksamer, unveränderlicher Fakt. In seinem mehrfach überarbeiteten Aufsatz "Gibt es Heterosexualität?" vertritt er die These, die meisten Menschen würden das Ausmaß ihrer Hetero- bzw. Homosexualität beträchtlich überschätzten." Siehe http://de.wikipedia.org/wiki/Gunter_Schmidt_%28Sexualforscher%29 und http://de.wikipedia.org/wiki/Monosexualit%C3%A4t

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