Sichtbarkeit gleichgeschlechtlicher Paare im Alltag

Der berliner CSD 2013 ist schon wieder Geschichte, in anderen deutschen Städten steht er noch bevor. In keinem anderen Monat ist die Sichtbarkeit queerer Menschen in Berlin so groß wie im Juni zur sogenannten 'Pride week'. Wir hören Radio- und sehen Fernsehbeiträge zum CSD und an den Rathäusern flattern die Regenbogenfahnen im Wind. Überhall ist zu lesen, dass Homosexuelle ja inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen seien und der Großteil der deutschen Bevölkerung eine Gleichbehandlung befürwortet. Zwar gebe es auch heute noch hin und wieder Diskriminierung, doch sei dies die Ausnahme. Berlin ist schließlich eine tolerante, weltoffene Stadt, in der Homosexuelle frei leben können.

Diese Sichtweise findet sich nicht nur in der heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft, sondern auch innerhalb einiger etablierter homosexueller Kreise. Ich bin selbst in Berlin geboren, hatte in meiner (katholischen) Familie ein recht unspektakuläres Coming Out, lebe seit Jahren in allen Bereichen meines Lebens - sei es im Alltag, in der Uni, bei Freunde oder der Familie - offen schwul und habe dabei wenn überhaupt nur subtile positive Diskriminierung erlebt. Doch habe ich deshalb das Gefühl, mich völlig frei in der Stadt bewegen zu können? Die Antwort auf diese Frage ist leider ein klares 'Nein'. Im Alltag fühle ich mich oft mit unterschwelliger Aggression meiner Mitmenschen konfrontiert, wenn ich z.B. Hand in Hand mit meinem Freund durch die Stadt laufe oder ihm in der Öffentlichkeit einen Begrüßungs- oder Abschiedskuss gebe. Aufdringliche, verstörte oder sogar verärgerte Blicke, offene Münder, Gekicher, Geflüster sind keine Seltenheit. Wenn ich in der Uni von meinem Freund erzähle, spüre ich deutlich die Verkrampfung meiner Kommilitonen; bloß nichts Falsches sagen und schleunigst das Thema wechseln, heißt dann die Devise. Selbstverständlichkeit sieht anders aus. Welcher schwule, lesbische oder bisexuelle Mensch kennt diese Situation nicht? Wer kennt es nicht, sich im öffentlichen Raum selbst zu zensieren, aus Angst vor diskriminierenden, ignoranten oder gewalttätigen Reaktionen? Wenn so kleine Gesten wie Hand-in-Hand-Gehen, Küssen oder Vom-Partner-Erzählen in der Bevölkerung auf derartiges Verhalten stoßen, zeigt es deutlich, wie massiv trotz aller Toleranzbekundungen auch heute noch die Vorbehalte gegen Homo- und Bisexuelle sind.

Wie jedoch passt dies mit dem Bild einer toleranten, weltoffenen Stadt zusammen? Bei medialer Sichtbarkeit scheint es einen Zusammenhang mit der Vermarktungsfähigkeit homosexueller Menschen zu geben. Hohle Diversity-Ansätze in der Unternehmenswelt und 'gayfriendly' Regenbogensticker an den Türen von Cafés, Restaurants etc. sind - so realistisch sollte man schon sein - in erster Linie eine Strategie, das eigene Image zu verbessern mit dem Ziel, neue Kundenstämme zu erschließen. Mit wirklicher Akzeptanz hat das in der Regel nichts zu tun. Inhaltslose Lippenbekenntnisse zu Toleranz und Respekt sind schnell gemacht und kosten nicht viel. Ein ernsthaftes Umdenken hingegen ist wesentlich arbeits- und zeitintensiver. Es wundert mich auch nicht, dass viele solcher Angebote sich primär an wohlsituierte, deutsche, gesunde, schwule Männer richten. Denn sie sind häufig die zahlungskräftigste Klientel, während lesbische Frauen aufgrund der nach wie vor bestehenden strukturellen Benachteiligung als Käuferschicht uninteressant sind. Diese Form der auf Markttauglichkeit beruhenden Sichtbarkeit normiert schwule Männer, und macht dabei gleichzeitig all jene unsichtbar, die nicht in das Bild des gut verdienenden, angepassten, sportlich-attraktiven 'Gute-Laune-Schwulen' passen. Ebenfalls unsichtbar gemacht werden - neben lesbischen Frauen - Trans*menschen, sowie queere Personen anderer sexueller Orientierungen und Geschlechtsidentitäten.

Im Alltag geht die Toleranz von queerer Sichtbarkeit leider oft nur so weit, bis eine unsichtbare Grenzlinie der Diskretion nicht überschritten wird. Dass die Schwelle für gleichgeschlechtliche Beziehungs- und Liebesformen hierbei deutlich niedriger angesetzt ist, als für heterosexuelle Menschen, kann wohl kaum bestritten werden. Was bei letzteren für Interesse, Anteilnahme oder gleichgültiges Schulterzucken sorgt, führt in derselben Situation mit gleichgeschlechtlich liebenden Menschen in vielen Fällen zu Irritation bzw. offener oder subtiler Abwehr. Die berühmte Phrase 'Sexualität sei Privatsache' gilt hier häufig nur für Schwule, Lesben und Bisexuelle. Dass Heterosexualität praktisch jeden Bereich des öffentlichen Lebens durchdringt, wird dabei gerne übersehen. Zugeben würde dies natürlich weder die sich ertappt fühlende heterosexuelle Mehrheit, noch ein Großteil der ach so emanzipierten homosexuellen Minderheit. Ich wundere mich oft über die Verdrängungskunst und Naivität meiner homosexuellen (meist männlichen) Mitmenschen. Es heißt dann, man sei in Berlin noch nie auf Ablehnung gestoßen wegen seines Schwulseins. Sobald man mal aber etwas nachhakt, stellt man fest, dass dieselben Personen jegliche Form der Sichtbarwerdung im Alltag vermeiden. Die neuste umfangreiche EU-Studie über die Diskriminierung von queeren Menschen - an denen sich europaweit 93.000 Personen beteiligten - enthüllte, dass 66% der Betroffenen es nicht wagten, in der Öffentlichkeit die Hand ihres Partners/ihrer Partnerin zu halten.

Diskriminierung? Doch nicht hier in Berlin! Sobald jemand den Finger in die Wunde legt, und auf die nach wie vor sehr reale Diskriminierung von queeren Menschen hinweist, kommt es beinahe reflexartig zu Gegenreaktionen, die die eigene Position als 'übertrieben', 'hysterisch' oder 'verbittert' brandmarken. Anfänglich stellte ich mir manchmal die Frage, ob diese Stimmen womöglich Recht haben, doch nach einiger Zeit begriff ich, dass es sich schlicht und ergreifend um Verdrängungsmechanismen handelte, um sich seine eigene Ohnmacht nicht eingestehen zu müssen. Solche und ähnliche Erfahrungen haben mich dazu gebracht, inzwischen weniger auf das zu hören, was gesagt wird, als vielmehr darauf, was nicht gesagt wird. Auch hat es meine Sinne dafür geschärft, das zu sehen, was viele nicht sehen können oder wollen. Homophobie im Alltag äußert sich meines Erachtens also nicht (nur) in der direkten Ablehnung nicht-heterosexueller Verhaltensweisen, sondern zum Großteil in ihrer Unsichtbarkeit, oder besser gesagt Unsichtbarmachung. Da gleichgeschlechtliche Paare im alltäglichen Bild - sei es auf Werbeplakaten oder im Fernsehen - so gut wie nie als solche dargestellt werden, nehmen sich viele als defizitär wahr und verinnerlichen, dass sie nicht dasselbe Anrecht besitzen, sich im Alltag selbstverständlich als Paar zu bewegen, wie es Heterosexuelle tun. Eine mediale Sichtbarkeit, nicht nur in den gruppenspezifischen Nischen, sondern auch im Mainstream, würde somit einer Art Bekräftigung des eigenen So-Seins dienen. Solange die Lebenswirklichkeit schwuler Männer, lesbischer Frauen oder bisexueller Menschen allerdings keine mediale Anerkennung findet, wird diesen Beziehungsformen meines Erachtens auch weiterhin ihre Existenzberechtigung abgesprochen. Bisher scheint dies trotz aller rechtlichen und gesellschaftlichen Fortschritte noch immer der Fall zu sein.

Homosexuelle schweigen und machen sich dadurch unsichtbar. Und wo Homosexualität unsichtbar bleibt, wird auch Homophobie für die meisten unsichtbar bleiben, weshalb die Gesellschaft keinerlei Handlungsbedarf sieht, sich mit ihrer latenten Homophobie stärker auseinanderzusetzen. Warum auch, es gibt ja scheinbar keine Probleme. Dass all dies auf dem Rücken homo- und bisexueller Frauen und Männer ausgetragen wird, die den Frust seit eh und je gewohnt sind, herunterzuschlucken und darüber zu schweigen, wird sich dabei ungern bewusst gemacht.

Ich bin inzwischen an dem Punkt angekommen, wo ich genau hierzu nicht mehr bereit bin. Ich weiß, dass mein Sichtbarwerden als schwuler Mann bei einem großen Teil der Bevölkerung trotz aller oberflächlichen Toleranzbekundungen zu (unterschwellig) aggressivem Verhalten führt und ich habe mich mental auf negative Reaktionen vorbereitet. Dennoch genieße ich es, Hand in Hand mit meinem Freund durch die vollen Straßen zu gehen. In solchen Momenten habe ich das Gefühl, ganz ich selbst zu sein, als der Mensch wahrgenommen zu werden, der ich wirklich bin. Es ist unglaublich befreiend, nicht mehr überall das diffuse Gefühl zu haben, sich selbst zensieren zu müssen oder sich einzureden, man 'könne das als schwuler Mann nun einmal nicht machen'. Vielleicht ist es ein Kampf gegen Windmühlen, gegen das bleierne Schweigen, gegen den subtilen Zwang zur Unsichtbarkeit oder einfach gegen die eigene Ohnmacht. Ich weiß es nicht. Was ich aber weiß ist, dass es mich stärker und zufriedener macht. Und allein dafür lohnt sich.

 

Text von Charlie

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